Zeichnung von M. Bauer
„Kennst dn denn die junge Dame?"
„Nein, aber ich bin schon lange an dieser Laltestelle ihr Windschutz."
6an; groß gesellen
Von Josef Robert Larrer
Weil wir eben bei dem Thema
über die Macht eigenartiger Lek-
türe sind, möchte auch ich ein
Beispiel dazu bringen, eine Art
Gulliverbeispiel, obwohl ich wäh-
rend des ganzen Erlebnisses nicht
eine Sekunde lang an Gulliver
dachte. Es ist gar nicht lange
her, da las ich vor dem Ein-
schlafen eine astronomische Plau-
derei über unser Weltbild in hun-
dert Millionstel Verkleinerung.
Das las sich spannender als eine
Kriminalgeschichte, Ansere Erde
schrumpft zu einem Apfel, die
Sonne daneben, das heißt ein-
undeinhalb Kilometer vom Erd-
apfel entfernt, scheint nicht größer
als ein kleiner Luftballon, der
gerade noch einen Menschen trägt.
Und der Mond wie eine Nuß
und-- —
Längst hatte ich die Zeitschrift
weggelegt und das Licht abge-
dreht, aber ich konnte nicht ein-
schlafen. Meine Phantasie malte
sich alles, was ich gelesen hatte,
so deutlich aus, daß die Schlaf-
geister kopfschüttelnd das Zimmer
verließen. Mitternacht schlug es,
da zwang ich mich krampfhaft zu
anderen Gedanken, nur um end-
lich einschlafen zu können. Meist
hilft in solchen Fällen der Ge-
danke an das Gegenteil. So stellte
ich mir vor, wie es wohl wäre,
wenn man sich alles ringsum ein-
mal riesengroß denke, etwa hun-
dertmal größer. Nun war das
Motto meiner Phantasie: „Ganz
groß gesehen!"
Meine Phantasie begann zu
Hüpfen, und ich schlief ein. Aber
ich schlief nur ein, um im Traume
alles vergrößert zu sehen, wobei
ich selbst meine normale Größe
besaß, die ich auch wachend habe,
168 Zentimeter.
Ich ging im Traume spazieren.
Alles ringsum war etwa hundert-
mal größer, als ich es sonst zu
sehen gewohnt war. DieMenschen
schwankten, hoch wie sonst die
höchsten Türme der Welt, vorüber; weite Abstände hielten sie von-
einander, als ob sie einander feind wären. Ihre Schuhe zum
Beispiel glichen großen Lastkähnen. Sooft sie auftraten, zitterte
der Boden wie bei einem Erdbeben. And erst das endlose Ausmaß
der Läufer, der erschreckende Amfang und Lärm der Autos, die
Endlosigkeit der Plätze, die gefährlichen Schlünde der Kanalgitter!
Ich will nicht weiter davon berichten, sondern eine Episode erzählen!
Vor einem Schaufenster, in dem Schinken von der Größe eines
Dreisamilienhauses hingen, stand ein weibliches Wesen. Zufällig
trug ich meinen Feldstecher bei mir, so daß ich an dem fernen Ge-
sichte sah, daß es einem jungen, hübschen Mädchen angehörte. Ich
beguckte mir die Figur näher Meine Blicke glitten durch das Glas
die Gestalt entlang. Bei den Knien stockte mein Blick. Was war
das? Die Dame hatte Strümpfe an, die sich wie ein grobes Fifcher-
neh um die Beine spannten. Nein, die Laut gefiel mir nicht! Denn
alles Mögliche war auf ihr zu sehen. Laare, dick wie Nadelbäume,
wuchsen auf dem holprigen, furchigen, mit Maulwurfshaufen bedeckten
Ackerboden ihrer Laut. Die Kniekehle glich einer geräumigen Löhle.
And dort kroch ein Krebs herum, der sich immer wieder in den Stricken
des Fischernctz- Strumpfes verfing. Wie kommt ein Krebs in die
Kniekehle einer jungen Dame? Da begriff ich, es war ein gewöhn-
licher Floh, der „ganz groß gesehen" eben einem Krebs glich. Plötz
53
„Kennst dn denn die junge Dame?"
„Nein, aber ich bin schon lange an dieser Laltestelle ihr Windschutz."
6an; groß gesellen
Von Josef Robert Larrer
Weil wir eben bei dem Thema
über die Macht eigenartiger Lek-
türe sind, möchte auch ich ein
Beispiel dazu bringen, eine Art
Gulliverbeispiel, obwohl ich wäh-
rend des ganzen Erlebnisses nicht
eine Sekunde lang an Gulliver
dachte. Es ist gar nicht lange
her, da las ich vor dem Ein-
schlafen eine astronomische Plau-
derei über unser Weltbild in hun-
dert Millionstel Verkleinerung.
Das las sich spannender als eine
Kriminalgeschichte, Ansere Erde
schrumpft zu einem Apfel, die
Sonne daneben, das heißt ein-
undeinhalb Kilometer vom Erd-
apfel entfernt, scheint nicht größer
als ein kleiner Luftballon, der
gerade noch einen Menschen trägt.
Und der Mond wie eine Nuß
und-- —
Längst hatte ich die Zeitschrift
weggelegt und das Licht abge-
dreht, aber ich konnte nicht ein-
schlafen. Meine Phantasie malte
sich alles, was ich gelesen hatte,
so deutlich aus, daß die Schlaf-
geister kopfschüttelnd das Zimmer
verließen. Mitternacht schlug es,
da zwang ich mich krampfhaft zu
anderen Gedanken, nur um end-
lich einschlafen zu können. Meist
hilft in solchen Fällen der Ge-
danke an das Gegenteil. So stellte
ich mir vor, wie es wohl wäre,
wenn man sich alles ringsum ein-
mal riesengroß denke, etwa hun-
dertmal größer. Nun war das
Motto meiner Phantasie: „Ganz
groß gesehen!"
Meine Phantasie begann zu
Hüpfen, und ich schlief ein. Aber
ich schlief nur ein, um im Traume
alles vergrößert zu sehen, wobei
ich selbst meine normale Größe
besaß, die ich auch wachend habe,
168 Zentimeter.
Ich ging im Traume spazieren.
Alles ringsum war etwa hundert-
mal größer, als ich es sonst zu
sehen gewohnt war. DieMenschen
schwankten, hoch wie sonst die
höchsten Türme der Welt, vorüber; weite Abstände hielten sie von-
einander, als ob sie einander feind wären. Ihre Schuhe zum
Beispiel glichen großen Lastkähnen. Sooft sie auftraten, zitterte
der Boden wie bei einem Erdbeben. And erst das endlose Ausmaß
der Läufer, der erschreckende Amfang und Lärm der Autos, die
Endlosigkeit der Plätze, die gefährlichen Schlünde der Kanalgitter!
Ich will nicht weiter davon berichten, sondern eine Episode erzählen!
Vor einem Schaufenster, in dem Schinken von der Größe eines
Dreisamilienhauses hingen, stand ein weibliches Wesen. Zufällig
trug ich meinen Feldstecher bei mir, so daß ich an dem fernen Ge-
sichte sah, daß es einem jungen, hübschen Mädchen angehörte. Ich
beguckte mir die Figur näher Meine Blicke glitten durch das Glas
die Gestalt entlang. Bei den Knien stockte mein Blick. Was war
das? Die Dame hatte Strümpfe an, die sich wie ein grobes Fifcher-
neh um die Beine spannten. Nein, die Laut gefiel mir nicht! Denn
alles Mögliche war auf ihr zu sehen. Laare, dick wie Nadelbäume,
wuchsen auf dem holprigen, furchigen, mit Maulwurfshaufen bedeckten
Ackerboden ihrer Laut. Die Kniekehle glich einer geräumigen Löhle.
And dort kroch ein Krebs herum, der sich immer wieder in den Stricken
des Fischernctz- Strumpfes verfing. Wie kommt ein Krebs in die
Kniekehle einer jungen Dame? Da begriff ich, es war ein gewöhn-
licher Floh, der „ganz groß gesehen" eben einem Krebs glich. Plötz
53
Werk/Gegenstand/Objekt
Pool: UB Fliegende Blätter
Titel
Titel/Objekt
"Kennst du denn die junge Dame?"
Weitere Titel/Paralleltitel
Serientitel
Fliegende Blätter
Sachbegriff/Objekttyp
Inschrift/Wasserzeichen
Aufbewahrung/Standort
Aufbewahrungsort/Standort (GND)
Inv. Nr./Signatur
G 5442-2 Folio RES
Objektbeschreibung
Maß-/Formatangaben
Auflage/Druckzustand
Werktitel/Werkverzeichnis
Herstellung/Entstehung
Künstler/Urheber/Hersteller (GND)
Entstehungsdatum
um 1944
Entstehungsdatum (normiert)
1939 - 1949
Entstehungsort (GND)
Auftrag
Publikation
Fund/Ausgrabung
Provenienz
Restaurierung
Sammlung Eingang
Ausstellung
Bearbeitung/Umgestaltung
Thema/Bildinhalt
Thema/Bildinhalt (GND)
Literaturangabe
Rechte am Objekt
Aufnahmen/Reproduktionen
Künstler/Urheber (GND)
Reproduktionstyp
Digitales Bild
Rechtsstatus
In Copyright (InC) / Urheberrechtsschutz
Creditline
Fliegende Blätter, 200.1944, Nr. 5140, S. 5140_053
Beziehungen
Erschließung
Lizenz
CC0 1.0 Public Domain Dedication
Rechteinhaber
Universitätsbibliothek Heidelberg