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Fliegende Blätter — 21.1855 (Nr. 481-504)

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Nr. 492
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https://doi.org/10.11588/diglit.2140#0090
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Die Martinsgans.

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einem wüthenden Blick auf den Schulmeister das Haus, denn
er glaubte schon auf den Lippen eines der Knaben die Ant-
wort zu lesen „zum Gänse nudeln".

Der Schulmeister entließ ihn unter vielen Bücklingen,
um seine Lippen aber schwebte ein malitiöses Lächeln, welches
dem Pastor keineswegs entgangen war.

Tags darauf am frühen Morgen, es war St. Martins-
tag , wurde der Schulmeister auf die Pfarre bestellt, um sich
, die Leviten über seine neue Unterrichtsmethode lesen zu lasten,
i Unsinn, Allotria, nannte sie der Pastor, frevelhaftes Spiel,
welches das Ansehen des Lehrers und noch mehr die Autorität
des Pastors untergrabe, eine Neuerung, die im Staate nicht
geduldet werden dürfe. Alle Schleußen seiner Beredsamkeit
hatte er geöffnet und wollte eben seinen Sermon mit der Nutz-
anwendung schließen, „ daß Schulmeister, welche sich dem Laster
' dieser neuen katechetischcn Anschauungsmethode ergeben, nicht
nur keine Ansprüche auf Gehaltszulagen haben, sondern am
Besten ganz vom Amte zu entfernen seien", als bleich, wie
der Kalk an der Wand, die Pastorin in's Zimmer stürzte, nur
der.Worte fähig: „ Ach Gott im Himmel, uns're Gänse!"

„ Was ist denn mit unfern Gänsen?" fragte der Pfarrer,
sie aber vermochte nicht zu antworten, Wuth und Thränen
erstickten ihre Stimme gänzlich.

Eine entsetzliche Ahnung bemächtigte sich des Pfarrers,
schnell erhob er sich aus seinem breiten Sorgenstuhle und schritt
gravitätisch dem Gänsestalle zu, gefolgt von dem Schulmeister,
der sich selbst nicht Rechenschaft darüber zu geben vermochte,
ob er dieß aus alter Gewohnheit that, wie es sein Küsteramt
erforderte, oder aus eitler, weltlicher Neugierde, oder auch aus
Theilnahme. Ein fürchterlicher!, ein schrecklicher Anblick bot
sich dem Pfarrer dar, als er die Thür seines Gänsestalls öffnete;

er sah nämlich gar nichts, auch nicht den Schatten einer von j
seinen sechs fetten Gänsen, von seinen sechs herrlichen Gänsen.
Fort waren sie alle sechs, fort, fort, ein frecher Dieb hatte sie
über Nacht alle sechs gestohlen. Die Haare hätte er sich aus-
raufen können, hätte ihn nicht der hohe Preis seiner Perücke
daran verhindert. Vergebens forschte man in Hof und Garten
nach der Spur des Weges, den der Dieb genommen hatte,
alle Dienstboten durchsuchten das Haus, aber auch nicht die
geringste Spur wollte sich finden.

Da endlich schöpfte der Pastor tief Athem und starrte
auf einen Punkt hin, als habe er so eben eine große, eine
ungeheure Entdeckung gemacht. „Herr Schulmeister," sagte er,
viel freundlicher als noch vor wenigen Minuten, „Herr Schul-
meister, bücke er sich doch einmal, ich dächte gleich dahier neben
der Thür läge etwas im Miste." Gehorsam bückte sich dieser
und hob den Gegenstand aus, zu welchem des Pastors Zeige-
finger als Wegweiser diente. Es war ein altes Taschenmesser.
Inzwischen hatte sich das gesammte Hauspersonal um die Bei-
den versammelt, das Mesier ging von Hand zu Hand, prüfend
ruhte jedes Auge auf demselben. Niemand aber kannte es,
Niemand konnte crrathen, wem es wohl angehören möchte.

„Oh, wie schlimm sind wir doch auf dem Lande daran,"
seufzte der Pastor, „daß uns eine gute Polizei abgeht, wie
man sich deren in der Stadt erfreuen darf. Vidocg in Paris
genügte ein halbverbrannter Fidibus, der in einer Kneipe unter
dem Tisch gefunden wurde, um die Erbauer einer berüchtigten .
Höllenmaschine zu ermitteln; was für Entdeckungen würden
sich nicht an dieses Taschenmeffer knüpfen, wenn es in die
Hände einer guten Polizei gelangte! Bei uns auf dem Lande
wird sich aber ein solcher Fund kaum nützlich erweisen; denn
wenn unsere Gerichtspersonen vielleicht auch so glücklich sind
mit Beihilfe der Gensdarmerie den Besitzer des Meffers zu
ermitteln, dann ist es nicht mehr möglich den Beweis des
Diebstahls gegen ihn zu führen; denn das 6orpu8 delicti ist
dann nicht mehr vorhanden, meine trefflichen Gänse sind dann
längst verspeist!"

Vor Wehmuth konnte er nicht weiter sprechen, durch den
Kopf des Schulmeisters aber zuckte, gleich einem Blitze, eine
geniale Idee. Fühlte er doch, daß er gestern etwas zu weit
in seiner Bosheit gegangen sei, daß er etwas wieder bei ihm
gut zu machen habe, sintemal ihm dieser doch noch mehr scha-
den könne, als nöthig.

„Herr Pastor," sagte er demüthig, „wenn Sie den Ihri-
gen Stillschweigen wollen angeloben über den Fund, den wir
gemacht haben; wenn Sie das Mesier nur für kurze Zeit mir
wollen anvertrauen, so habe ich gegründete Hoffnung, daß
binnen hier und zwei Stunden der Dieb ermittelt ist und Sie,
wenn nur irgend eine Möglichkeit dazu vorhanden, wieder im
Besitz Ihrer Gänse sind."

„Schulmeister," entgegnete der Pastor, „wenn er das .
könnte, wie dankbar würde ich sein; aber," fügte er miß-
trauisch hinzu, „ich wäre doch neugierig zu wissen, wie er das
bewerkstelligen wollte?"

„Begleiten Sie mich zur Schule, hören und sehen Sie

i
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Titel/Objekt
"Die Martinsgans"
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Fliegende Blätter
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Aufbewahrungsort/Standort (GND)
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Inv. Nr./Signatur
G 5442-2 Folio RES

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Auflage/Druckzustand

Werktitel/Werkverzeichnis

Herstellung/Entstehung

Entstehungsort (GND)
München

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Publikation

Fund/Ausgrabung

Provenienz

Restaurierung

Sammlung Eingang

Ausstellung

Bearbeitung/Umgestaltung

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Thema/Bildinhalt (GND)
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Pfarrer <Motiv>
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Schrecken <Motiv>
Perücke
Karikatur
Satirische Zeitschrift

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Fliegende Blätter, 21.1855, Nr. 492, S. 90

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