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Meine erste Karte.
langes, rabenschwarzes Haar gestochten war, hingen ihr nach
ländlicher Sitte über den Rücken hinab und am Arme trug
sic ei» einfaches Körbchen. Ich blickte ihr nach, so lange sie
I noch zu sehen war, und da sie vom Dörfchen ab der Mühle zu
. ihren Weg nahm, so vermuthete ich nicht ohne Grund, daß
: sic zu den Bewohnern derselben gehören möchte. 2üif dem Heim-
wege kam ich, ich weiß nicht wie, auf allerlei Jdeenverbindungen
zwischen der Mühle und meinem Geschäfte. Es fiel mir bei, daß
die Grenzlinie meiner Sektion derart die Mühle berühre, daß
letztere noch in meinen Geschäftskrcis falle; daß ich der In-
struktion gemäß von Westen nach Osten zu arbeiten hätte,
; also in die Gegend von der Mühle erst zuletzt kommen würde;
daß mein östlicher Nachbar im Geschäfte, der bei der Mühle
zu beginnen hatte und wohl schon dort war, ein älterer gräm-
> lichcr Mann und Vater von 6 Kindern sei. Ich erinnerte
' mich, daß mein Geschäft hie und da durch Regen unterbrochen
werden könnte, und daß ich dann öfters näher zur Mühle, als
zum Dörfchen haben würde. Als ich über die Enzbrücke kam,
hatte ich dem Flusse bereits seine Krümmung verziehen, und
zwar aus dem einfachen Grunde, weil er am Ende derselben
eine Mühle trieb. Ich hatte dies zwar gleich anfangs bemerkt,
aber daß es auch sein Gutes haben könne, war mir nicht
beigefallen.
In meinem Quartiere, im Ochsen zu Enzhalden, angc-
kommen, erhielten meine Mühlgedanken neue Nahrung. An
einem Tische hatte sich eine breite, stämmige Gestalt aufgcpflanzt,
die auf den ersten Anblick als Müller erkannt wurde. Ich
setzte mich ihm gegenüber. „Er ist wahrscheinlich einer von
den neuen Geometern?" fragte er mich grob, „es ist seit ein
paar Tagen auch so einer aus der Mühle."
„Ich werde später ebenfalls die Ehre haben," entgcgnete
| ich, „mein Geschäft —"
„Will nicht hoffen," fiel er ei», „ist an dem schon zu
viel. Ueberhaupt ist's eine rechte Unnoth. Was, vermessen!
Ich will von Niemand nichts und gebe von dem Mcinigen
nichts her. Meine Aeckcr und meine Mühle habe ich, wic's
schon mein Vater und Großvater gehabt haben, und gerade so
bekommts mein Franz auch von mir."
„Und Eure Marie?" fragte scherzend der Ochsenwirth,
„die bekommt nichts?"
„Für die ist gesorgt," sagte der Müller, „die soll nicht
zu kurz kommen!" Dabei griff er in die Tasche, zog eine
Hand voll Geld heraus und hielt sic pfiffig lächelnd dem
Ochsenwirth vor's Gesicht.
„Wo habt Ihr sie den» gelassen?" fuhr dieser fort,
„Ihr seid doch heute Mittag mit ihr das Thal herauf?"
„Droben am Wechsel," war die Antwort, „ist sie durch
die Weinberge der Mühle zu, sie wird schon daheim sein."
Ich wußte nun von der grüßenden Schönheit außer dem,
was ick, selbst beobachtet hatte, weiter: 1) daß sie eine reiche
Müllerstochter war, 2) daß sie Marie hieß und 3) daß sie
einen groben Vater hatte. Ehe ich noch die Folgerungen, die
sich aus 1) und 3) ergeben, gehörig überlegt hatte, fiel mir I
noch ein vierter Punkt bei, dessen Aufklärung mir ungleich
wichtiger war, nämlich ob Jungfer Marie schon einen Anbeter
habe oder nicht. Auch darüber sollte ich »och heute Abend
Aufschluß erhalten.
Der Müller hatte sich nämlich bald sortbegcben und seinem
Franz Platz gemacht, der mit einigen ander» ledigen Burschen
in den Ochsen kam. Bald gesellte sich auch der Herr Schul-
Provisor dcS Orts zu ihnen. -Als Vorstand einer Art von
Liederkranz spielte er keine geringe Rolle, namentlich in jetziger
Zeit, wo eine Fahnenweihe in Aussicht stand. Auch heute
Abend wurde von nichts gesprochen als von der Fahne, die
bereits in der Stadt in Arbeit genommen war, von der
Fahnenweihe und der prächtigen Rede, die der Herr Provisor
darauf in petto habe, und von dem Ball, der die Fahnenweihe
beschließen solle. „Die schönste Tänzerin muß doch ich haben!"
rief begeistert der Provisor aus und „Ja, ja!" bekräftigten
alle, „Müllers Marie ist und bleibt das schönste Mädchen."
„Prosit Schwager!" stieß nun der Provisor mit Müllers
Franz an und
n' A — ha — lles was wir lie — hie — den lebe,
n' A — ha — lles was uns ho — hoch erfreut!
stimmte der Chorus begeistert an.
Mich ging eigentlich die ganze Geschichte von Haut
und Haaren nichts an. Das Catasterbureau hatte mich weder
wegen Müllers Marie noch Franz, weder wegen Provisor
noch Liedcrkranz noch Fahnenweihe nach Enzhalden geschickt,
sondern ganz einfach wegen Aufnahme einer Flurkartc. Und
doch, ich weiß nicht, wie es kam, die Sache mit dem Licdcr-
kranz-Fahnenweihe-Ball wollte mir gar nicht gefallen, und
als ich mich endlich zur Ruhe begab, umgaukelte ein buntes
Gewirr von schwarzen Augen, unebenen Aeckcr», groben
Müllern, r Quadrat mal pi und lustigen Provisoren meine
Träume.
Meine erste Karte.
langes, rabenschwarzes Haar gestochten war, hingen ihr nach
ländlicher Sitte über den Rücken hinab und am Arme trug
sic ei» einfaches Körbchen. Ich blickte ihr nach, so lange sie
I noch zu sehen war, und da sie vom Dörfchen ab der Mühle zu
. ihren Weg nahm, so vermuthete ich nicht ohne Grund, daß
: sic zu den Bewohnern derselben gehören möchte. 2üif dem Heim-
wege kam ich, ich weiß nicht wie, auf allerlei Jdeenverbindungen
zwischen der Mühle und meinem Geschäfte. Es fiel mir bei, daß
die Grenzlinie meiner Sektion derart die Mühle berühre, daß
letztere noch in meinen Geschäftskrcis falle; daß ich der In-
struktion gemäß von Westen nach Osten zu arbeiten hätte,
; also in die Gegend von der Mühle erst zuletzt kommen würde;
daß mein östlicher Nachbar im Geschäfte, der bei der Mühle
zu beginnen hatte und wohl schon dort war, ein älterer gräm-
> lichcr Mann und Vater von 6 Kindern sei. Ich erinnerte
' mich, daß mein Geschäft hie und da durch Regen unterbrochen
werden könnte, und daß ich dann öfters näher zur Mühle, als
zum Dörfchen haben würde. Als ich über die Enzbrücke kam,
hatte ich dem Flusse bereits seine Krümmung verziehen, und
zwar aus dem einfachen Grunde, weil er am Ende derselben
eine Mühle trieb. Ich hatte dies zwar gleich anfangs bemerkt,
aber daß es auch sein Gutes haben könne, war mir nicht
beigefallen.
In meinem Quartiere, im Ochsen zu Enzhalden, angc-
kommen, erhielten meine Mühlgedanken neue Nahrung. An
einem Tische hatte sich eine breite, stämmige Gestalt aufgcpflanzt,
die auf den ersten Anblick als Müller erkannt wurde. Ich
setzte mich ihm gegenüber. „Er ist wahrscheinlich einer von
den neuen Geometern?" fragte er mich grob, „es ist seit ein
paar Tagen auch so einer aus der Mühle."
„Ich werde später ebenfalls die Ehre haben," entgcgnete
| ich, „mein Geschäft —"
„Will nicht hoffen," fiel er ei», „ist an dem schon zu
viel. Ueberhaupt ist's eine rechte Unnoth. Was, vermessen!
Ich will von Niemand nichts und gebe von dem Mcinigen
nichts her. Meine Aeckcr und meine Mühle habe ich, wic's
schon mein Vater und Großvater gehabt haben, und gerade so
bekommts mein Franz auch von mir."
„Und Eure Marie?" fragte scherzend der Ochsenwirth,
„die bekommt nichts?"
„Für die ist gesorgt," sagte der Müller, „die soll nicht
zu kurz kommen!" Dabei griff er in die Tasche, zog eine
Hand voll Geld heraus und hielt sic pfiffig lächelnd dem
Ochsenwirth vor's Gesicht.
„Wo habt Ihr sie den» gelassen?" fuhr dieser fort,
„Ihr seid doch heute Mittag mit ihr das Thal herauf?"
„Droben am Wechsel," war die Antwort, „ist sie durch
die Weinberge der Mühle zu, sie wird schon daheim sein."
Ich wußte nun von der grüßenden Schönheit außer dem,
was ick, selbst beobachtet hatte, weiter: 1) daß sie eine reiche
Müllerstochter war, 2) daß sie Marie hieß und 3) daß sie
einen groben Vater hatte. Ehe ich noch die Folgerungen, die
sich aus 1) und 3) ergeben, gehörig überlegt hatte, fiel mir I
noch ein vierter Punkt bei, dessen Aufklärung mir ungleich
wichtiger war, nämlich ob Jungfer Marie schon einen Anbeter
habe oder nicht. Auch darüber sollte ich »och heute Abend
Aufschluß erhalten.
Der Müller hatte sich nämlich bald sortbegcben und seinem
Franz Platz gemacht, der mit einigen ander» ledigen Burschen
in den Ochsen kam. Bald gesellte sich auch der Herr Schul-
Provisor dcS Orts zu ihnen. -Als Vorstand einer Art von
Liederkranz spielte er keine geringe Rolle, namentlich in jetziger
Zeit, wo eine Fahnenweihe in Aussicht stand. Auch heute
Abend wurde von nichts gesprochen als von der Fahne, die
bereits in der Stadt in Arbeit genommen war, von der
Fahnenweihe und der prächtigen Rede, die der Herr Provisor
darauf in petto habe, und von dem Ball, der die Fahnenweihe
beschließen solle. „Die schönste Tänzerin muß doch ich haben!"
rief begeistert der Provisor aus und „Ja, ja!" bekräftigten
alle, „Müllers Marie ist und bleibt das schönste Mädchen."
„Prosit Schwager!" stieß nun der Provisor mit Müllers
Franz an und
n' A — ha — lles was wir lie — hie — den lebe,
n' A — ha — lles was uns ho — hoch erfreut!
stimmte der Chorus begeistert an.
Mich ging eigentlich die ganze Geschichte von Haut
und Haaren nichts an. Das Catasterbureau hatte mich weder
wegen Müllers Marie noch Franz, weder wegen Provisor
noch Liedcrkranz noch Fahnenweihe nach Enzhalden geschickt,
sondern ganz einfach wegen Aufnahme einer Flurkartc. Und
doch, ich weiß nicht, wie es kam, die Sache mit dem Licdcr-
kranz-Fahnenweihe-Ball wollte mir gar nicht gefallen, und
als ich mich endlich zur Ruhe begab, umgaukelte ein buntes
Gewirr von schwarzen Augen, unebenen Aeckcr», groben
Müllern, r Quadrat mal pi und lustigen Provisoren meine
Träume.
Werk/Gegenstand/Objekt
Pool: UB Fliegende Blätter
Titel
Titel/Objekt
"Meine erste Karte"
Weitere Titel/Paralleltitel
Serientitel
Fliegende Blätter
Sachbegriff/Objekttyp
Inschrift/Wasserzeichen
Aufbewahrung/Standort
Aufbewahrungsort/Standort (GND)
Inv. Nr./Signatur
G 5442-2 Folio RES
Objektbeschreibung
Maß-/Formatangaben
Auflage/Druckzustand
Werktitel/Werkverzeichnis
Herstellung/Entstehung
Künstler/Urheber/Hersteller (GND)
Entstehungsort (GND)
Auftrag
Publikation
Fund/Ausgrabung
Provenienz
Restaurierung
Sammlung Eingang
Ausstellung
Bearbeitung/Umgestaltung
Thema/Bildinhalt
Thema/Bildinhalt (GND)
Literaturangabe
Rechte am Objekt
Aufnahmen/Reproduktionen
Künstler/Urheber (GND)
Reproduktionstyp
Digitales Bild
Rechtsstatus
Public Domain Mark 1.0
Creditline
Fliegende Blätter, 29.1858, Nr. 681, S. 18
Beziehungen
Erschließung
Lizenz
CC0 1.0 Public Domain Dedication
Rechteinhaber
Universitätsbibliothek Heidelberg