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Die Vergangenheit.
Echanffiren Sie sich nicht, Sie jugendlicher Liebhaber! Erinnern
Sie sich noch an Fräulein Johanna Nurrini, mit der Sie einst als
kühner Alonzo in der Precioia spielten?.. Die Preciosa war Ich!"
Allgerechter! Jetzt fiel mir die Geschichte ein. Auf einem
Abstecher nach Oranienburg hatten wir — eine zusammengetrommelte
Schauspiclertrnppe aus aller Herren Länder — die „Preciosa" ge-
mimt. Fräulein Nurrini war meine Preciosa gewesen. . Ja, jetzt
stand jener Abend wieder riesengroß vor meiner Seele.
„Ach", rief ich, „ich entsinne mich!"
„Sehen Sie wohl! — Sie sagten noch bei der Stelle:
Und so nimm den ersten Kuß
Bon Preciosas Lippen,
Nurrini, Sie sind entzückend, ich bete Sie an! ... Ja, ja, verehrte
Frau, Ihr Karl fing dazumal leicht Feuer!"
Nach meiner Klara sah ich nicht mehr; ich wußte, was mir
bevorstand — ihr Blick würde mich zerschmettert haben.
„Das ist sehr möglich!" entgegnete ich mit der größten Ruhe, !
„die Zeiten ändern sich, und die Menschen auch! . . Sie sind wohl
ebenfalls nicht mehr beim Theater?"
„O nein, Herr Ebert, ich bin schon lange verheirathet!"
In demselben Moment kam ein alter, asthmatischer Herr auf
unseren Ruheplatz zugekeucht.
„Komm', Minna", redete er schon von fern die Nurrini an,
„wir müssen weitergehen — die Excellcnz war nicht zu Hause."
Nurrini erhob sich; sie warf mir noch einen funkensprühenden Blick
zu, ließ den Vorhang über ihre lieblichen Züge fallen, nahm den Arm
ihres Gemahls und entfernte sich mit einer kurzen Verbeugung.
Jetzt wagte ich erst mich nach meiner Frau umzusehen. Sie
war kreidebleich geworden. „Wir wollen aufbrechen, Klara," sagte
ich ruhig, „in einem Restaurant irgend etwas genießen, und dann
in's Theater gehen!"
Ohne ein Wort zu sprechen, legte meine Gattin ihren Arm in l
den meinigen. Ich ergriff ihre Hand; sie war eiskalt. Sie blieb
auch bei ihrem Schweigen, als wir durch die Leipziger Straße
schleuderten; sie würdigte selbst die Schaufenster der Modemagazine
keines Blickes. Es war, als ginge ein Automat an meiner Seite. —
Wir traten in ein Lokal, und der Zufall wollte-es, daß in dem-
selben Damen-Bedienung gebräuchlich war. Als eine jugendliche Hebe
uns begrüßt und ich mir die Speisekarte ausgebeten hatte, brach
meine Frau ihr beängstigendes Schweigen.
„Hier bist Du wohl schon bekannt?" fragte sie, und ihre
Stimme hatte eine ungewöhnliche Schärfe.
„Nein! . . Weßhalb?"
„Nun, man geht doch mit keiner anständigen Frau in ein
solch' unfeines Restaurant!"
„Verzeih', mir sah das Lokal von außen so einladend und
anheimelnd aus."
Meine Frau lächelte ironisch und zuckte die Achseln. In dem
nach hinten gelegenen Zimmer des Restaurants schien es sehr lebhaft
zuzugehcn. Wir hörten Gelächter, Gläserklingen; junge Leute mit
geröthetem Gesicht gingen an uns vorüber — es schienen Studenten
zu sein. Als ich das Essen bestellt und die Kellnerin abgefertigt
hatte, trat eine Person in unser Zimmer, die große Aehnlichkeit mit
den Riesendamen hatte, welche ans Jahrmärkten in den Buden gezeigt
werden. Diese, mindestens 250 Pfund schwere Gestalt rief mit
heiserer Fuhrmannsstimme: „Karl Ebert — altes Haus — bist
Du's. oder bist Du's nicht?! ... Ja er ist's, unser heißgeliebter
Roller" — so war einst mein Kneipuame gewesen — „komm' an
mein Herz, alter Schwede!" Und ohne viel Umstände zu machen — i
zum Glück war Niemand in unserer Nähe — packte sie mich bei
den Armen, zog mich vom Stuhle empor, und umlvand mich, wie
eine Boa-Constriclor, daß mir alle Rippen im Leibe knackten.
„Mein Fräulein", stotterte ich, als ich wieder zur Besinnung
gekommen war und sah, daß niich der Wallfisch nicht verschlungen
hatte, „ich kann mich kaum erinnern, wie ich zu der Ehre komme,
kommen soll, von Ihnen gekannt zu sein!"
„Ehre?!" Die dicke Dame lachte laut auf. „Das klingt recht
komisch, lieber Roller. Kennst Du denn die kleine, niedliche Sclica
nicht mehr, die Du zu Chemnitz in der Postkneipe so oft mit einigen
Studenten besucht hast?"
Jetzt begann eine dunkle Ahnung in mir aufzudämmern. „Ver-
zeihen Sie", entgegnete ich befangen, „ich habe Sie nicht wieder
erkannt; Sie haben sich ungeheuer verändert!"
„Nicht wahr, ich bin etwas stärker — forscher geworden?"
(Du lieber Himmel, das nannte sic etwas!) „Aber das ist nur
äußerlich — das Herz ist jung und gut geblieben!"
Ich machte ihr Zeichen mit den Angen, und sah sie ernst an,
so daß sie befangen schwieg, und nun erst ans die Dame an meinem
Tische aufmerksam wurde. Sie räusperte sich verlegen und schien
jetzt einzusehen, welchen Faux pas sie begangen hatte.
„Ihr Fräulein Schwester?" fragte sie nach einer für uns alle
Drei sehr peinlichen Panse.
„Meine Frau!" versetzte ich in ernstem Tone.
Wie erstaunte ich aber, als Klara mit lächelnder Miene zu der
niedlichen Selica sagte:
„Die sich sehr freut, mein Fräulein, Ihre werthe Bekanntschaft
zu machen. Bitte nehmen Sie doch bei uns Platz!.. Karl, laß noch
ein Glas bringen!" Und zu "meinem Schrecken und Entsetzen ließ
sich Selica neben meiner Frau nieder.
„Ihre freundliche Einladung nehme ich mit Dank an", erwiderte
sie ceremoniell, und dann wieder in ihren alten Ton verfallend, fuhr
sie fort: „Sie scheinen überhaupt ein ganz patentes Haus zu sein!"
„Also Sie kannten meinen Mann schon früher," begann Klara,
ohne ans die letzten Worte zu achten. „Das freut mich außerordentlich!"
Ich konnte es mir lebhaft denken.
,^Ach bitte, erzählen Sie mir doch von meinem lieben Karl
etwas" — das „lieben" klang sehr ironisch —; „ich möchte so gerne
die Erlebnisse seiner Jugendzeit kennen lernen, aber er schweigt
prinzipiell darüber. Er hat sich doch gewiß nichts vorzuwerfen.
Und kleine Tollheiten begeht am Ende jeder geistvolle Mann!"
„Ach, Du Schlange!" dachte ich.
Selica schien auch nicht mehr bei den« ersten Seidel zu sein.
Sie war sehr gesprächig und tischte meiner Frau Dinge auf, von
Die Vergangenheit.
Echanffiren Sie sich nicht, Sie jugendlicher Liebhaber! Erinnern
Sie sich noch an Fräulein Johanna Nurrini, mit der Sie einst als
kühner Alonzo in der Precioia spielten?.. Die Preciosa war Ich!"
Allgerechter! Jetzt fiel mir die Geschichte ein. Auf einem
Abstecher nach Oranienburg hatten wir — eine zusammengetrommelte
Schauspiclertrnppe aus aller Herren Länder — die „Preciosa" ge-
mimt. Fräulein Nurrini war meine Preciosa gewesen. . Ja, jetzt
stand jener Abend wieder riesengroß vor meiner Seele.
„Ach", rief ich, „ich entsinne mich!"
„Sehen Sie wohl! — Sie sagten noch bei der Stelle:
Und so nimm den ersten Kuß
Bon Preciosas Lippen,
Nurrini, Sie sind entzückend, ich bete Sie an! ... Ja, ja, verehrte
Frau, Ihr Karl fing dazumal leicht Feuer!"
Nach meiner Klara sah ich nicht mehr; ich wußte, was mir
bevorstand — ihr Blick würde mich zerschmettert haben.
„Das ist sehr möglich!" entgegnete ich mit der größten Ruhe, !
„die Zeiten ändern sich, und die Menschen auch! . . Sie sind wohl
ebenfalls nicht mehr beim Theater?"
„O nein, Herr Ebert, ich bin schon lange verheirathet!"
In demselben Moment kam ein alter, asthmatischer Herr auf
unseren Ruheplatz zugekeucht.
„Komm', Minna", redete er schon von fern die Nurrini an,
„wir müssen weitergehen — die Excellcnz war nicht zu Hause."
Nurrini erhob sich; sie warf mir noch einen funkensprühenden Blick
zu, ließ den Vorhang über ihre lieblichen Züge fallen, nahm den Arm
ihres Gemahls und entfernte sich mit einer kurzen Verbeugung.
Jetzt wagte ich erst mich nach meiner Frau umzusehen. Sie
war kreidebleich geworden. „Wir wollen aufbrechen, Klara," sagte
ich ruhig, „in einem Restaurant irgend etwas genießen, und dann
in's Theater gehen!"
Ohne ein Wort zu sprechen, legte meine Gattin ihren Arm in l
den meinigen. Ich ergriff ihre Hand; sie war eiskalt. Sie blieb
auch bei ihrem Schweigen, als wir durch die Leipziger Straße
schleuderten; sie würdigte selbst die Schaufenster der Modemagazine
keines Blickes. Es war, als ginge ein Automat an meiner Seite. —
Wir traten in ein Lokal, und der Zufall wollte-es, daß in dem-
selben Damen-Bedienung gebräuchlich war. Als eine jugendliche Hebe
uns begrüßt und ich mir die Speisekarte ausgebeten hatte, brach
meine Frau ihr beängstigendes Schweigen.
„Hier bist Du wohl schon bekannt?" fragte sie, und ihre
Stimme hatte eine ungewöhnliche Schärfe.
„Nein! . . Weßhalb?"
„Nun, man geht doch mit keiner anständigen Frau in ein
solch' unfeines Restaurant!"
„Verzeih', mir sah das Lokal von außen so einladend und
anheimelnd aus."
Meine Frau lächelte ironisch und zuckte die Achseln. In dem
nach hinten gelegenen Zimmer des Restaurants schien es sehr lebhaft
zuzugehcn. Wir hörten Gelächter, Gläserklingen; junge Leute mit
geröthetem Gesicht gingen an uns vorüber — es schienen Studenten
zu sein. Als ich das Essen bestellt und die Kellnerin abgefertigt
hatte, trat eine Person in unser Zimmer, die große Aehnlichkeit mit
den Riesendamen hatte, welche ans Jahrmärkten in den Buden gezeigt
werden. Diese, mindestens 250 Pfund schwere Gestalt rief mit
heiserer Fuhrmannsstimme: „Karl Ebert — altes Haus — bist
Du's. oder bist Du's nicht?! ... Ja er ist's, unser heißgeliebter
Roller" — so war einst mein Kneipuame gewesen — „komm' an
mein Herz, alter Schwede!" Und ohne viel Umstände zu machen — i
zum Glück war Niemand in unserer Nähe — packte sie mich bei
den Armen, zog mich vom Stuhle empor, und umlvand mich, wie
eine Boa-Constriclor, daß mir alle Rippen im Leibe knackten.
„Mein Fräulein", stotterte ich, als ich wieder zur Besinnung
gekommen war und sah, daß niich der Wallfisch nicht verschlungen
hatte, „ich kann mich kaum erinnern, wie ich zu der Ehre komme,
kommen soll, von Ihnen gekannt zu sein!"
„Ehre?!" Die dicke Dame lachte laut auf. „Das klingt recht
komisch, lieber Roller. Kennst Du denn die kleine, niedliche Sclica
nicht mehr, die Du zu Chemnitz in der Postkneipe so oft mit einigen
Studenten besucht hast?"
Jetzt begann eine dunkle Ahnung in mir aufzudämmern. „Ver-
zeihen Sie", entgegnete ich befangen, „ich habe Sie nicht wieder
erkannt; Sie haben sich ungeheuer verändert!"
„Nicht wahr, ich bin etwas stärker — forscher geworden?"
(Du lieber Himmel, das nannte sic etwas!) „Aber das ist nur
äußerlich — das Herz ist jung und gut geblieben!"
Ich machte ihr Zeichen mit den Angen, und sah sie ernst an,
so daß sie befangen schwieg, und nun erst ans die Dame an meinem
Tische aufmerksam wurde. Sie räusperte sich verlegen und schien
jetzt einzusehen, welchen Faux pas sie begangen hatte.
„Ihr Fräulein Schwester?" fragte sie nach einer für uns alle
Drei sehr peinlichen Panse.
„Meine Frau!" versetzte ich in ernstem Tone.
Wie erstaunte ich aber, als Klara mit lächelnder Miene zu der
niedlichen Selica sagte:
„Die sich sehr freut, mein Fräulein, Ihre werthe Bekanntschaft
zu machen. Bitte nehmen Sie doch bei uns Platz!.. Karl, laß noch
ein Glas bringen!" Und zu "meinem Schrecken und Entsetzen ließ
sich Selica neben meiner Frau nieder.
„Ihre freundliche Einladung nehme ich mit Dank an", erwiderte
sie ceremoniell, und dann wieder in ihren alten Ton verfallend, fuhr
sie fort: „Sie scheinen überhaupt ein ganz patentes Haus zu sein!"
„Also Sie kannten meinen Mann schon früher," begann Klara,
ohne ans die letzten Worte zu achten. „Das freut mich außerordentlich!"
Ich konnte es mir lebhaft denken.
,^Ach bitte, erzählen Sie mir doch von meinem lieben Karl
etwas" — das „lieben" klang sehr ironisch —; „ich möchte so gerne
die Erlebnisse seiner Jugendzeit kennen lernen, aber er schweigt
prinzipiell darüber. Er hat sich doch gewiß nichts vorzuwerfen.
Und kleine Tollheiten begeht am Ende jeder geistvolle Mann!"
„Ach, Du Schlange!" dachte ich.
Selica schien auch nicht mehr bei den« ersten Seidel zu sein.
Sie war sehr gesprächig und tischte meiner Frau Dinge auf, von
Werk/Gegenstand/Objekt
Pool: UB Fliegende Blätter
Titel
Titel/Objekt
"Die Vergangenheit"
Weitere Titel/Paralleltitel
Serientitel
Fliegende Blätter
Sachbegriff/Objekttyp
Inschrift/Wasserzeichen
Aufbewahrung/Standort
Aufbewahrungsort/Standort (GND)
Inv. Nr./Signatur
G 5442-2 Folio RES
Objektbeschreibung
Maß-/Formatangaben
Auflage/Druckzustand
Werktitel/Werkverzeichnis
Herstellung/Entstehung
Künstler/Urheber/Hersteller (GND)
Entstehungsdatum
um 1893
Entstehungsdatum (normiert)
1888 - 1898
Entstehungsort (GND)
Auftrag
Publikation
Fund/Ausgrabung
Provenienz
Restaurierung
Sammlung Eingang
Ausstellung
Bearbeitung/Umgestaltung
Thema/Bildinhalt
Thema/Bildinhalt (GND)
Literaturangabe
Rechte am Objekt
Aufnahmen/Reproduktionen
Künstler/Urheber (GND)
Reproduktionstyp
Digitales Bild
Rechtsstatus
In Copyright (InC) / Urheberrechtsschutz
Creditline
Fliegende Blätter, 99.1893, Nr. 2523, S. 206
Beziehungen
Erschließung
Lizenz
CC0 1.0 Public Domain Dedication
Rechteinhaber
Universitätsbibliothek Heidelberg