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Zeitung der 10. Armee — Wilna, 2.Oktober - Dezember 1917

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Hefte 403-436, November 1917
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langt, die nach den Wäldern des Potenzials
hinübersieht, zum Brand und Hockstein. Und
da beginnen die Stuten, die in den sandigen
Boden eingebaut sind und deren vielfaches
Hundert uns nicht verdrießen darf, wenn wir
die Höhe des Liiiensteins erreichen wollen.
Und man meint, sie niemals erreichen zu kön-
nen, am allerwenigsten in der uns genannten
Zeit von einer kurzen Stunde.

Jetzt, da wir aus dem Walde herausgetre-
ten sind, gewahren wir auch, daß erst hier
die Säulenwände des gewaltigen Steines em-
porzuwachsen beginnen, wissen aber nicht, wo
der Steig zu seinem Oipfel hinaufführt und ob
wir noch weiter um ihn herumwandern müs-
sen, ehe wir ihn zwingen. Da aber sehen wir
an einer Wegbiegung die Stufen im Zickzack
in einer Felsspalte emporklimmen und oben
die Stirn des Berges erreichen. Nach wenigen
Minuten sind auch wir soweit und betreten
durch ein üittertürchen das langersehnte Pla-
teau. Um die gewohnte Ernüchterung durch
eine Wirtschaft erst später zu erfahren, wen-
den wir uns sogleich nach links und lassen,
eine kurze Waldwildnis durchquerend, von
der Carola-Bastei die ersten Blicke übers Elb-
tal gleiten. Wir verfolgen es stromaufwärts,
und der Osten ist Jdar zu der Stunde, da drü-
ben im Westen die Braudsäulen am Horizont
emporwachsen. Schandau und die gespensti-
sche Prozession der Schrammsteine sind unse-
rem Entzücken am nächsten. Dahinter begren-
zen die be,rdeu Winterberge und der Tannen-
berg den Ausblick. Das goldige Band, das
allabendlich von unsichtbarer Hand entrollt
wird, läuft auch jetzt die Kämme dieser Berge
entlang und läuft, da wir uns jetzt nach Sü-
den wenden, auch dort weiter, über den Ro-
senberg nach dem Kaltenberg und die lange
Kette der Hügel dahin, immer röter und flim-
mernder werdend.

Auf dem Wege zum Wettin-Obelisk müs-
sen wir an der Drachenschlucht vorbei, die in
einer engen Felsspalte zunächst senkrecht in
die Tiefe führt und dann über ein paar an der
Felswand befestigte Staffeln zu einer Höhle
geleitet, durch die man hindurchkriecht, um
auf der Kaiseraussicht wiederum festen Bo-
den unter sich zu haben. Man kann diesen
Aussichtspunkt auch ohne die Draehen-
schlucht zu passieren erreichen. Wer aber

schwindelfrei ist und einen Vorgeschmack von
den großen Schluchten, die wir auf unseren
ferneren Wanderungen durch das Elbsand-
steingebirge noch antreffen werden, zu erhal-
ten wünscht, der wage es, mit freien Armen
ganz ruhig in diesen Schlund hinabzutauchen.

Die Kaiseraussicht ist einer der seltsam-
sten Plätze in der Sächsischen Schweiz. Zu-
erst blickt man von oben in die Draebcn-
schlucht hinein, die wir soeben durchklettert
haben. Sie sieht von hier weit gefährlicher
aus, als sie in Wirklichkeit ist. Außer Schwin-
delfreiheit verlangt sie wirklich keine touri-
stische Erfahrung; übermäßiger Korpulenz
verschließt sie sich ja von selbst und gleich
in ihrem ersten Teile. Aber dennoch würde
mancher das reizvolle Abenteuer nicht wa-
gen, wenn er sich darüber zuvor von der Kai-
seraussicht unterrichtet hätte. Die aber ragt
über allen Gipfeln, und es ist seltsam, auf die
Kronen der Buchen herniederzuschauen, die.
einer kostbaren Bühnendekoration gleich, wie
aus Stoff geschnitten zwischen den Wänden
der Schlucht aufgehangen scheinen. An vie-
len Punkten der Sächsischen Schweiz, beson-
ders aber hier, überrascht uns diese schein-
bare Unnatürlichkeit. ganz eigen.

Allerlei Märchengedanken machen sich un-
sere Stimmung sogleich zunutze, und es wäre
auch nicht gut verständlich, wenn sich kei-
nerlei Sagen erzählen ließen, so sich auf dem
Lilienstein zugetragen. Und es geht eine sol
che von drei Schatzgräbern, die mitternächt-
licherweile auf dem Lilienstein nach verborge-
nen Reichtümern gegraben. Es war aber auch
eine junge Magd" unter ihnen, die die streng
ste aller Schatzgräberpflichten nicht zu er-
füllen vermochte. Sie konnte nämlich ihren
Mund'nicht halten. Da tat es auf einmal einen
schreckbaren Krach, und die drei Männer
wurden in die Luft und nach drei Seiten weit
for/tgcff'hleudert. Der eine nach EJaeaheit,
dem Weiler am Fuße des Berges, der zweite
nach Königstein hinüber, und der dritte kam
sogar nach Waltersdorf zu liegen. Ueber das
Schicksal der geschwätzigen Magd habe ich
nichts in Erfahrung bringen können. Viel-
leicht ist sie die Stammutter der Schwatz-
liesen geworden?

Ein Weber zu Schandau aber hatte ein
noch viel seltsameres Erlebnis. Der liebte es,

Sonn- und Feiertags nach dem Gottesdienste
auf den Lalieustein zu steigen und dort un-
term blauen Himmelsdom den geheiligten Tag
zu Ende zu verleben. Und da erschien ihm
eines Tages das Mittagsgespenst des Lilien-
steins, eitte weiße Frau, traurig von Antlitz,
so traurig, daß es den frommen Weber ergriff.
Die Erscheinung aber bat ihn, ihr doch am
nächsten Sonntag eine heilige Hostie mit auf
den Berg zu bringen; es solle des Webers
Schaden nicht sein. Der Gottesfurcht des
Mannes war es zuwider, die Bittte der weißen
Frau zu erfüllen. Doch da er sich des trauri-
gen Blicks erinnerte, der die liehenden Worte
begleitet hatte, und weil er von der Erlösung
armer Seelen schon manches gehört und gele-
sen und daran dachte, daß es sich auch da um
einen solchen Fall handeln könne, rang er sei-
ne Bedenken nieder und wußte sich am näch-
sten Sonntag eine Hostie zu verschaffen, mit
der er sich auf den Lilienstein begab. Hier
legte er die heilige Oblate auf ein mitgebrach-
tes weißes Tuch, und siehe, alsbald nahte sieh
mit entsetzlichem Getöse ein schreckliches Un-
getüm mit gräßlichen Augen und furchtbaren
Krallen. Da fuhr es dem erschrockenen We-
ber ins Gebein, daß er aufsprang und eiligst
Fersengeld gab. Hinter sich aber hörte er eine
klagende Stimme rufen: „Nun darf ich noch
weitere_ fünfhundert Jahre nicht zur Ruhe
kommen!" Von Reue ergriffen, bestieg der
Weber tagtäglich den Lilienstein, ohne jedoch
die weiße Frau nochmals zu Gesicht zu bekom-
men. Darüber ward er schwermütig und siech,
so daß man ihm alsbald zur letzten Ruhe das
(Üöcklein läutete.

Heute steht an der Stelle, wo der Wel»er
die Erscheinung gehabt, ein stattliches Gast-
haus, das man nicht umgehen kann, wenn man
auf die Mulattensteine gelangen will. Drei
kurze Brückehen führen über jene Schluch-
ten, durch die wir beim Abstieg vom Lilien-
stein gelangen werden, zu jenen Steinen hin-
über, von denen man das Elbtal stromabwärts
überschaut und den weiten Horizontbogen
von der Feste Königstein über die Bastei bis
Schloß Hohnstein. Tief in die wallende west-
liche Glut hineingeschoben erscheint uns
Dresden. Zu unseren Füßen aber haben die
Wälder ihr gütiges Schlummerlied noch lange
nicht ausg-esungen---

Der oberitalienische_Iirie gs schau platz

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V«r«tt*wört!i«fc«r K*kritti+iU»r- T,**>tn*,w< 3 B«t Tjrbaoh. Th-nck und Verlar- Zeitrsw* A?r 10. ArOM». Pah*fu«rt<W Nachdruck verbot«*
 
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