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Feuer: Monatsschrift für Kunst und künstlerische Kultur — 2.1920/​1921

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Hollander, Walther von: Expressionismus, Mythos, Glaube: (zu Georg Kaisers Werk)
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https://doi.org/10.11588/diglit.41961#0050

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WALTHER VON HOLLÄNDER
EXPRESSIONISMUS, MYTHOS, GLAUBE
(ZU GEORG KAISERS WERK)

Expressionismus: miljbrauchfestes Wort mit vielfältiger Deutung. Klar daran
nur, Ausdruck des Lebendigen, Wirbel und Aufwirbelung sonst träge ge-
lagerter Moleküle, Zielrichtung nadi der Mitte des Daseins. Ausgrabung
des Menschen aus den Trümmern seiner Zufälligkeit. Sueben des ewigen
Gesekes.
Expressionismus: der Zwang, durch die äußere Hülle hindurdizustof^en, Kern zu
finden, zu pflanzen, aus dem neuer Baum sprießt. Unerhörteste Verbrüderung mit
der Wirklidrkeit, die nicht wechselt, mit der Ewigkeit, die flutet. Der Wille, Trauer,
Tragödie, Zersehung, Tod zu der Flamme emporzufachen, in der Zufälligkeit
schmilzt und Glück, Lächeln, Entzückung, Trunkenheit, Tanz zu Leben zu einen,
aus dem Atem der Ewigkeit — wie Baumblüte lächelnd — weht.
Leibes Ziel: neuer Glaube und demütiges Beugen des stolzen Herzens vor einem
Lenkenden. Hinsinken des ersdiöpften Kämpfers an väterliche Brust. Furchtloses,
erfülltes Eingehn in das dunkle Tor, das hinter jedem Leben aufgerichtet ist.
Zwei Zeitalter rannten ineinander und verstrickten sich kämpfend. (Zeitalter, deren
Getrenntheit voneinander nicht übertrieben werden kann.) Zwei Zeitalter stehn auf
dieser Erde nebeneinander. Aber es ist nur Plah für eines. Darum dauert der
Kampf, bis eines in den Abgrund stürzt. Dieses stürzende kann — nach dem
ewigen Geseb von Geburt und Tod — nur das vergangene sein. Expressionismus
ist die Fahne des Kommenden. Unklar bleibt, ob Expressionismus Ausdruck des
Kommenden ist oder das Kommende zeugt. Ob der Erkennende, Prophet, Dichter
ein Künder ist von Visionen erfüllt oder der Schöpfer, Mitschöpfer der Wirklichkeit,
ob (anders gesagt) das Geseb im Menschen steckt oder über dem Menschen steht,
ob es aus ihm hervorgeht oder aus unbekannter Tiefe quellend ihn treibt. Hier ist
das Gebiet des Glaubens, das mit den Schuhen der Worte nicht betreten werden
kann, Scriptor taceat in ecclesia.
Noch einmal genau: es gibt keine Brücke zwischen Gestern und Morgen. Dies
Heute ist brückenlose Kluft, über die nur der Sprung ins Morgen führt. Ob der
Sprung ins Nichts führt oder in leichtere Luft, in der Neues zu wachsen vermag
und bisher Verkrüppeltes nachwächst — das vermag niemand zu sagen.


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