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Feuer: Monatsschrift für Kunst und künstlerische Kultur — 2.1920/​1921

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Hildebrandt, Hans: Die Bedeutung des Stuttgarter Lindenmuseums für die Kunstgestaltung von heute
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https://doi.org/10.11588/diglit.41961#0569

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essante Kulturprobleme auf oder gar, wie in den Zeiten des Klassizismus, als
Monstrositäten. Man weiß jetzt ihre Ebenbürtigkeit mit dem Besten, was das
Abendland in stilstrengen Epochen hervorgebracht hat, und errichtet ihnen
Museen, die reinste Genüsse gewähren. So fremdartig die Weltauffassung sein
mag, der sie entstammen: Die unübertroffene Einheitlichkeit ihres geistigen
Gehalts und ihrer formalen Gestaltung ist Vorbild auch für uns.
Erst dem 20. Jahrhundert aber blieb es Vorbehalten, die künstlerischen Werte
aufzuspüren, die in den Erzeugnissen exotischer—oft durchaus nicht niederer —
Kulturen und primitiver Naturvölker ruhen. Die spanischen Eroberer nord*
und südamerikanischer Staatengebilde hatten mit wenigen Ausnahmen, zu
denen der geniale Cortez zählte, wenig Verständnis für die Bedeutung dessen,
was sie raubten oder zerschlugen. Die Ausgrabungen der letzten Jahrzehnte
haben uns belehrt, wieviel mit sinnloser Brutalität vernichtet worden ist. Für
das künstlerische Wesen dessen aber, was die Bewohner der Südsee und Afri*
kas zum allgemeinen Kulturgut der Menschheit beigesteuert haben, wurden
uns von einigen Malern und Bildhauern unserer Tage die Augen geöffnet.
Wie ist es möglich, daß die Leistungen so ferner, so naiver Kulturen uns
Kindern des 20. Jahrhunderts eine durchaus nicht oberflächliche Angelegen*
heit werden konnten? Das Kunstschaffen Europas hatte sich schon Ende
des vorigen Jahrhunderts in eine Sackgasse verrannt. Auf dem Wege stetiger
Verfeinerung der technischen Mittel, auf dem Wege immerzu wachsender
Wissensanhäufung hatte es sich soweit vom Urgrund des Schöpferischen
entfernt, daß es ihn aus dem Auge verlor. Weiterschreiten war nicht denk*
bar. Nur Umkehr zum Elementaren der Gestaltung konnte, wenn auch auf
einem Umwege, dem Ziele einer reinen und starken Kunst wieder näher
bringen. Nun ist freilich das Elementare künstlerischen Schaffens auch in
den Werken europäischer Vergangenheit, die über eine hohe Tradition ver*
fügte, enthalten. Allein jene Kulturen, die über den gesicherten Erfahrungs*
schätz vieler Jahrhunderte geboten, konnten es sich leisten, das Selbstver*
ständliche zu verschleiern. Unsere traditionsarme Zeit aber brauchte das
Elementare in seiner Hüllenlosigkeit, um wieder von vorn beginnen zu
können. So konnten uns die Gestaltungen der Südseeinsulaner wie der afri*
kanischen Völkerschaften unmittelbare Werte geben dank ihrer voraus*
setzungslosen Schlichtheit. Sie zeigen, wie ein geistiger Gehalt mit natür*
licher Kraft, ohne nach »Richtigkeit« im Sinne des landläufigen Sehens zu
fragen, die ihn restlos versinnlichende Form selbst erschafft. Sie zeigen in der
Plastik die Zurückführung raumerfüllender Gebilde auf die Erstreckungen
in Höhe, Breite und Tiefe. Sie offenbaren den künstlerischen Wert schlich*
tester, eindeutiger Gegensätze und Wiederholungen. Sie enthüllen die An*
fange rhythmischer Flächenbelebung, aus deren Grundgesetzen sich selbst
die verwickeltsten und reichsten Bildungen aufbauen.

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