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Feuer: Monatsschrift für Kunst und künstlerische Kultur — 3.1921/​1922

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Hartlaub, Gustav Friedrich: Weltstil und Weltreligion oder: Über die religiösen Grundlagen der stilschöpferischen Kraft
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https://doi.org/10.11588/diglit.44743#0083
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WELTSTILUNDWELTRELIGION
ODER: ÜBER DIE RELIGIÖSEN GRUNDLAGEN
DER STILSCHÖPFERISCHEN KRAFT
G. F. HARTLAUB
I
til nennt man durchgehende Formführung in der künstlerischen
Gestaltung eines Ganzen. »Stil« wird so im einzelnen Kunstwerk die
Einheitgleich gestimmter Formen. »Stil« umfaßt das Gesamtwerk einer
Persönlichkeit, einer örtlichen Schule, eines Stammes, einer klimatischen,
einer zeitlichen Gemeinschaft. Stil aber im wesenhaftesten, gültigsten, all*
gemeinsten Sinn ist Welt*Stil: künstlerischer Formausdruck der weitesten
und letzten Kultureinheit von Völkern.
Man hat das Stil;:Phänomen im engsten wie im weitesten Sinn gleichsam
darwinistisch aus der Eigenart der vorhandenen Werkstoffe und dem Ge#
schicklichkeitsgrad ihrer Bearbeitung abzuleiten versucht, ohne zu bemerken,
daß Kunst irrationaler Gefühlsausdruck ist, ihre Erscheinung sich also nie*
mals mit bloßer Anpassungs# und Nutzform decken kann. Man hat, etwa
in dem Sinne von Marx, die Stileinheit aus der Gleichheit wirtschaftlicher
und gesellschaftlicher Bedingungen verstehen wollen, deren »Überbau« das
Kunstschaffen bilde. Man hat umgekehrt, den Sozialismus gleichsam aufs
Seelische übertragend, Stil allein aus einem nicht weiter erklärten »Kunst#
wollen« menschlicher Gemeinschaft abgeleitet, ohne zu beweisen, warum
dieses Wollen vor dem Müssen den entscheidenden Vorrang haben soll.
Aber im Reiche der Erfahrung kann sich auf die Dauer nichts als wahrhaft
Erstes, Ursprüngliches, Unbedingtes ausweisen und halten; alles unterliegt
dem verhängnisvollen Zirkel gegenseitiger Abhängigkeiten und Einflüsse.
Eine Herleitung, die solchem Kreislauf entfliehen, die weder materialistisch
noch psychologistisch sein will, kann nur von einer Voraussetzung aus#
gehen, für die in der Erfahrung höchstens Hinweise, niemals Beweise zu
erlangen sind: Stil im letzten Sinne fließt ihr aus Antrieben (Impulsen),
die, aus einer Ebene des unbedingten Seins jenseits von Leiblichem und
Seelischem wirkend, sich räumlich und zeitlich über die Entwicklung und
Ausbreitung der Menschheit auf unserem Planeten verteilen und jeweils
mit den vorgefundenen physischen und psychischen Verhältnissen ausein#
andersetzen.
II
»Stil« in irgend einem engeren Sinn findet sich überall, wo wirkliche Kunst
wächst. Weltstile müssen gesucht, können nicht überall und zu jeder Zeit
gefunden werden.


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