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Feuer: Monatsschrift für Kunst und künstlerische Kultur — 3.1921/​1922

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Sachs, Curt: Barocke Tonkunst
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https://doi.org/10.11588/diglit.44743#0201
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BAROCKE TONKUNST
CURT SACHS
Es ist bedeutungsvoll, daß wir heute einerseits Expressionisten in der
bildenden Kunst wie in der Musik an der Arbeit sehen, andrerseits
neben bildnerischen Schöpfungen barocken Geistes einen Kultus Bachs
und Händels erleben wie nie zuvor. In den Rahmen dieses Kultus gehört
die Pflege alter Instrumente wie des Cembalo, es gehören aber auch schöpfe#
rische Anknüpfungen an Bach, wie sie für eine Reihe moderner Tonsetzer,
etwa Max Reger, Ferruccio Busoni und Heinrich Kaminski, kennzeichnend
sind. Weder in der bildenden Kunst noch in der Musik handelt es sich um
ein äußerliches Altertümeln. Es geht um mehr: es geht um den Abschluß
der Romantik.
Nach dem Zeitalter der Klassik hatte die Musik langsam ihren Darstellungs#
kreis erweitert. In die Oper, in das Oratorium, in das Lied war mehr und
mehr das Übersinnliche eingezogen, Märchen, Sage und Legende waren
zur Herrschaft gelangt, das zeitlich Entrückte, das Unirdische, das Unfaß#
bare rang nach Fassung und Versinnbildlichung. Langsam ging die musi#
kalische Sprache nach. Allmählich machte sie sich von der klassischen Ge#
bundenheit los; die allzustrenge Form wurde gelockert, weil sie zu selbst#
herrlich geworden war, weil sie dem neuen Geiste zu absichtsvoll erschien
und dem freien Flug der dichterischen Erfindung, dem ungestümen Drängen
des dramatischen Gedankens, der ungehemmten Auswirkung subjektiven
Schaffens unerträgliche Fesseln anhängte. Der gesetzliche Aufbau der Sonate
und Symphonie macht zwangloseren Gestaltungen, macht schließlich der
einsätzigen Sonate und der symphonischen Dichtung Platz, das Strophen#
lied dem durchkomponierten Gesang, das »Arienbündel« der Oper der un#
endlichen Melodie des Musikdramas. Dichtungen — Dramen: die Musik
will nicht Musik in erster Linie sein, sie geht der Poesie nach, sie will selbst
zur Dichtung werden. Sie begnügt sich da, wo gesungen wird, nicht mehr
mit Texten, die ihr dienen und losgelöst belanglos wären, sie verlangt volle
literarische Werte und versucht die Dichtung zu überdichten. Selbst wo nicht
gesungen wird, läßt sich der Komponist gern von einer Dichtung anregen,
oder er schickt seinen Werken ein eigenes dichterisches Programm voraus.
Auch die Malerei muß anregen; die Stimmungen, die Kaulbachs und Böck#
lins Bilder auslösen, werden in Noten übertragen: Liszt schreibt eine Hunnen#
schlacht, Hans Huber eine Böcklinsymphonie und Weingartner ,Die Gefilde
der Seligen'. Es ist bei allem Anfechtbaren die große Tat der Romantik, daß
sie wieder das Bewußtsein für den unlösbaren Zusammenhang aller Künste

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