jedes Blatt und jeder Mensch jene Reinheit, von der ich spreche5 die Natur ist die
wahre Quelle jedes Dinges. Sich wiederholt zu finden, zerstört bereits für das Werk
etwas von jener Kraft, die es in sich barg, im Gegensatz zu dem Prinzip der allgemeinen
Anziehung, das mit der Masse (vergleiche das Prinzip der mechanischen Ordnung)
wächst.1 2 Das, denke ich, meint Gide,1 wenn er von den Sternen spricht, und von ihren
Büschen, die sich durch den Schlund der Nacht bewegen, sagt:
„Elles se tiennent l’une a Fautre toutes attachees par des liens qui sont des
vertus et des forces, de Sorte que Fune depend de Fautre et que Fautre depend
de toutes. La route de cbacune est tracee et chacune retrouve sa route. Elle
ne saurait en changer sans en distraire chacune autre, chacune etant de
chaque autre occupee . . . un amour ebloui les guide . . .“
oder, noch auf den Menschen angewandt:
„Ce qu’un autre aurait aussi hien dit que toi, ne le dis pas •— aussi bien
ecrit que toi, ne Fecris pas. Ne t’attache en toi, qu’ä ce que tu sens qui
n’est nulle part ailleurs qu’en toi meme, et er ec: de toi, impatiemment ou
patiemment, ah: le plus irremplacable des etres.“
Die Epochen, die das begriffen haben, haben diese erstaunliche Macht der Ausstrahlung
besessen. Das sind die „Momente der Harmonie“, von denen Ruskin spricht und von
denen man, wie von ihm selbst, sagen kann: „Durch ihre in der Tiefe des Grabes für
immer geschlosssenen Augen werden die Geschlechter, die noch nicht geboren sind,
die Natur schauen.“ Athen, Rom, Florenz, Venedig, das Frankreich der gotischen Zeit,
London im Zeitalter der Königin Elisabeth, Versailles oder Weimar.
IV.
Allmählich sehe ich den Leser die Stirn runzeln und seufzen: „Was muß man tun,
um einen Franzosen daran zu hindern, ein unverbesserlicher Individualist zu sein.
Er will uns überreden, daß die Kunst in ihren Wirkungen nur international sein
kann, wenn sie in ihren Ursachen national ist, und ebenso umgekehrt, daß die im
reinsten Sinne nationalen oder lokalen Ursachen Wirkungen von durchaus internatio-
nalem Charakter zur Folge haben, daß die Kunst etwas Einziges ist in jeder ihrer Er-
scheinungen, und er spricht, wie es vierzig Millionen seiner Landsleute könnten.“
Leider ist dieses nicht Kunst. Sodann habe ich auch nicht gesagt, daß ich mich mit
einem Schlage von dem gefährlichen zu Beginn dieser Seiten erwähnten Dilemma be-
freien könnte: was ich zu skizzieren versucht habe, das ist eine Methode, um aus ihr
herauszukommen, bei der Kunst nicht ihren ethischen Aspekt, sondern ihren Reinheits-
grad in Betracht zu ziehen. Ich sage dir nicht, Leser, was ich dem Auslande verdanke:
das bleibt eine Frage der Schule und der Tradition. Diese scheint mir maßlos ver-
1 Wir sehen: Die mechanische Ordnung besitzt oft die der natürlichen Ordnung entgegengesetzten Eigen-
tümlichkeiten; man könnte sie aristokratisch nennen.
2 Les Norirritures Terrestres.
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wahre Quelle jedes Dinges. Sich wiederholt zu finden, zerstört bereits für das Werk
etwas von jener Kraft, die es in sich barg, im Gegensatz zu dem Prinzip der allgemeinen
Anziehung, das mit der Masse (vergleiche das Prinzip der mechanischen Ordnung)
wächst.1 2 Das, denke ich, meint Gide,1 wenn er von den Sternen spricht, und von ihren
Büschen, die sich durch den Schlund der Nacht bewegen, sagt:
„Elles se tiennent l’une a Fautre toutes attachees par des liens qui sont des
vertus et des forces, de Sorte que Fune depend de Fautre et que Fautre depend
de toutes. La route de cbacune est tracee et chacune retrouve sa route. Elle
ne saurait en changer sans en distraire chacune autre, chacune etant de
chaque autre occupee . . . un amour ebloui les guide . . .“
oder, noch auf den Menschen angewandt:
„Ce qu’un autre aurait aussi hien dit que toi, ne le dis pas •— aussi bien
ecrit que toi, ne Fecris pas. Ne t’attache en toi, qu’ä ce que tu sens qui
n’est nulle part ailleurs qu’en toi meme, et er ec: de toi, impatiemment ou
patiemment, ah: le plus irremplacable des etres.“
Die Epochen, die das begriffen haben, haben diese erstaunliche Macht der Ausstrahlung
besessen. Das sind die „Momente der Harmonie“, von denen Ruskin spricht und von
denen man, wie von ihm selbst, sagen kann: „Durch ihre in der Tiefe des Grabes für
immer geschlosssenen Augen werden die Geschlechter, die noch nicht geboren sind,
die Natur schauen.“ Athen, Rom, Florenz, Venedig, das Frankreich der gotischen Zeit,
London im Zeitalter der Königin Elisabeth, Versailles oder Weimar.
IV.
Allmählich sehe ich den Leser die Stirn runzeln und seufzen: „Was muß man tun,
um einen Franzosen daran zu hindern, ein unverbesserlicher Individualist zu sein.
Er will uns überreden, daß die Kunst in ihren Wirkungen nur international sein
kann, wenn sie in ihren Ursachen national ist, und ebenso umgekehrt, daß die im
reinsten Sinne nationalen oder lokalen Ursachen Wirkungen von durchaus internatio-
nalem Charakter zur Folge haben, daß die Kunst etwas Einziges ist in jeder ihrer Er-
scheinungen, und er spricht, wie es vierzig Millionen seiner Landsleute könnten.“
Leider ist dieses nicht Kunst. Sodann habe ich auch nicht gesagt, daß ich mich mit
einem Schlage von dem gefährlichen zu Beginn dieser Seiten erwähnten Dilemma be-
freien könnte: was ich zu skizzieren versucht habe, das ist eine Methode, um aus ihr
herauszukommen, bei der Kunst nicht ihren ethischen Aspekt, sondern ihren Reinheits-
grad in Betracht zu ziehen. Ich sage dir nicht, Leser, was ich dem Auslande verdanke:
das bleibt eine Frage der Schule und der Tradition. Diese scheint mir maßlos ver-
1 Wir sehen: Die mechanische Ordnung besitzt oft die der natürlichen Ordnung entgegengesetzten Eigen-
tümlichkeiten; man könnte sie aristokratisch nennen.
2 Les Norirritures Terrestres.
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