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XIII. Auswertung und Interpretation der Goldfunde aus dem Artemision

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Das Tier im Artemision findet sich sowohl in künstlicher Form, nämlich als Weihegeschenk, als auch
in natürlicher Form, als Tierknochen. Sowohl als Weihegeschenk als auch als Opfertier hat es einen Pro-
zess durchlaufen: Bei Ersterem ist es ein Abbild der Realität und wird aufgrund der eigenen ästhetischen
Wahrnehmung, stilistischer Konventionen, des Zeitgeistes etc. verändert. Aber auch als Opfertier macht es
ein - wenn auch natürliches - Stadium der Veränderung durch: Es kann verbrannt, zerhackt etc. werden,
manchmal werden nur bestimmte Teile der Gottheit geopfert, andere wiederum werden gegessen1432. Tier-
darstellung und Opfertier müssen nicht zwangsläufig derselben Art angehören, denn auch ungenießbare
Tiere, wie die Schlange oder die Biene, die im Artemision nicht verzehrt wurden, sind vor allem in Gold
abgebildet und besaßen vermutlich eine starke Affinität zur Göttin1433. Als weitere Aspekte können hier
auch die Darstellung der >Herrin der Tiere< (Istanbul 3077 und London 908) oder Artemis in Gestalt eines
Tieres angeführt werden1434.
Interessant ist im Falle des Artemisions auch die Jägerassoziation: Artemis selbst ist die Göttin der Jagd,
die einen dualistischen Charakter besitzt, denn einerseits tötet sie die Tiere, andererseits werden diese auch
von ihr beschützt; und obendrein werden ihr gewisse Tiere geopfert. Auch im archaischen Artemision haben
vermutlich gesellschaftliche Konventionen festgelegt, welche Tiere der Gottheit geopfert und welche als Dar-
stellungen geweiht wurden. Man kann also davon ausgehen, dass die Tiere im Artemision alle einen gewis-
sen symbolischen Wert für die damalige Gesellschaft besaßen und daher auf irgendeine Art verehrt wurden.
Da religiöse Anlässe wie Opfer und Weihung u. a. sozialer Natur waren, lassen sich Hinweise zunächst auf
die Stellung bestimmter Tiere im Heiligtum und ihre Position im Kult finden, wie in einem weiteren Schritt
auf die Gesellschaft selbst1435. Da gewisse Tierdarstellungen wie Raubvogel oder Biene nicht nur als Attribute
der Gottheit gelten können, sondern z. T. auch die Gottheit selbst repräsentieren, könnten sie als eine Art
Totem identifiziert werden - allerdings nur dann, wenn Gottheit und Totem ein und dasselbe sind1436.
Es können aber noch andere Formen existieren, wie beispielsweise der Totemismus als Reflexion be-
stimmter sozialer Organisationen oder kleinerer anthropologischer Einheiten (Phratrien oder Großfamili-
en)1437 und als Ausdruck ethnischer Gruppen1438, deren Konzepte und Erkennungsmerkmale sich dann z. B. in

1432 A. Bammer - F. Brein - P. Wolff, Das Tieropfer am Artemisaltar von Ephesos, in: S. §ahin - E. Schwertheim - J. Wagner
(Hrsg.), Studien zur Religion und Kultur Kleinasiens. Festschrift Karl Friedrich Dörner, EPRO 66, 1 (Leiden 1978) 107-157;
G. Forstenpointner, Untersuchungen zur osteologischen Manifestation des Tieropfers im ägäischen Raum anhand der Tierkno-
chenfunde aus dem Artemision von Ephesos (Habil. Universität Wien 1998).
1433 s. dazu Kap. XIII.2.2 zu einem möglichen >Bildprogramm<.
1434 z. B. als Bär: Bammer 1991/92, 48. Zum Herren der Tiere und Tierverwandlungen in der ethnologischen Forschung auch:
J. F. Thiel, Grundbegriffe der Ethnologie 5(Berlin 1992) 55-57.
1435 In einem totemistischen System überwiegen die kognitiven Werte des Tieres - im Gegensatz zu seiner wirtschaftlichen bzw.
ökonomischen Bedeutung. Dieser Meinung sind E. Dürkheim, Les formes elementaires de la vie religieuse (Paris 1912);
C. Levi-Strauss, Le totemisme aujourd’hui (Paris 1962; dt. Übersetzung: Das Ende des Totemismus, Frankfurt am Main 1965),
und Bammer 1989, 33. Die menschliche Einstellung anderen Spezies gegenüber basiert auf ökologischen, psychologischen,
kulturellen und funktionellen Überlegungen. Für uns heute sind beispielsweise Hund und Katze Begleiter des Menschen.
Aber sie können auch andere Aufgaben erfüllen: als Jäger, Schafhüter, Vogelfänger. Zu Klassifikationsprinzipien und ihren
Handlungs- und Glaubenssystemen: P. J. Ucko, Introduction, in: R. G. Willis (Hrsg.), Signifying Animais: Human Meaning in
the Natural World (London 1989) Einleitung xvi.
1436 s. u. a. S. Freud, Totem und Tabu 5(Frankfurt am Main 1912/13, Neudruck 1997) 48 f. Wichtig ist in diesem Zusammenhang
vor allem der IV. Teil, wo Freud über die Beziehung zwischen Urvater, Opfertier und Gottheit reflektiert und hieraus nicht
nur einen Bezug zur Religion, sondern auch zur sozialen Gesellschaft herstellt.
1437 Zur Diskussion der Existenz eponymer Tiere als Clanembleme in der Archaik: U. Muss, Silen und Gigant auf dem ephesischen
Simenfries, ÖJh 57, 1986/1987, 36 f. mit Lit.: Ch. T. Seltman, Athens. Its History and Coinage Before the Persian Invasion
(Cambridge 1924) 18-22: Embleme auf den sog. Wappenmünzen aus der Zeit vor der athenischen Tyrannis stellen Fami-
lienembleme dar. Diese finden sich z. T. auch als Schildzeichen, die auf Herkunft und Identität verweisen. Das Artemision
betreffend: Bammer 1989, 48. Zum Wappenbild auf den Münzen im Artemision: St. Karwiese, Das Artemision von Ephesos
und die ältesten Münzen der Welt, in: Muss 2001, 106 f.
1438 Zu den Begriffen Ethnizität und ethnische Gruppen: D. Konstan, To Hellenikon ethnos: Ethnicity and the Construction of An-
cient Greek Identity, in: Malkin 2001a, 29 f; J. M. Hall, Ethnie Identity in Greek Antiquity (Cambridge 1997) 2; S. Jones, The
Archaeology of Ethnicity. Constructing Identities in the Past and Present (London 1997) 6. Für Literaturhinweise zu diesem
Thema danke ich vor allem V. Gassner.
 
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