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Wir gelangen nun zu dem einzig erhaltenen bezeichnenden Glied der Innenarchitektur, dem Palmblattkapitell191). Es
ist, wie das älteste uns bekannte griechische Kapitell, das von Frati auf Kreta192), bezeugt, eine uralte Form, die, wenn
auch nicht alltäglich vorkommend, doch eigentlich den ganzen Ablauf der griechischen Architektur begleitet, in manchen
Perioden wie der archaischen und der hellenistischen häufiger, in anderen ganz spärlich vertreten. Für die erstere mag
neben Frati an die Kapitelle der Marmorthesauroi von Delphi193) und des Apollotempels von Naukratis194), für die helleni-
stische Zeit an die Attalidenbauten in Athen (die Eumenesstoa195) und die Stoa Attalos II196)) und in Pergamon (Nordstoa
des Athenabezirks197)), endlich an den Marktbau von Aegae198) erinnert werden. In seiner Formgebung steht nun unser
Kapitell der ersteren Gruppe näher als der zweiten. Den Kalathos umgeben breite, flach ansteigende, durch Mittelrippen
gegliederte Blätter von weicher und doch kraftvoller Bewegung. Das hellenistische Palmblattkapitell verwendet die alte
Form mehr spielerisch, stellt schmale, ungegliederte Blätter nebeneinander, läßt sie steiler, mit weniger Elastizität empor-
steigen. Die Blattenden werden meist zu Löffeln ausgehöhlt. Soll man nun das Palmblattkapitell von Belevi als Ausfluß
einer archaisierenden Tendenz auffassen ?
Es wäre jedenfalls nicht die einzige Spur einer solchen an unserem Bau. Man denke vor allem an den Fries mit den
um die großen roten Scheiben sich windenden S-Ranken, die dem unteren Teil desselben einen stark flächenhaften Charakter
verleihen und ihn in Gegensatz bringen zu den plastisch-naturalistisch durchgeführten Lotosblüten und Palmetten. Dasselbe
Motiv begegnet dann an den Innenhelices der korinthischen Kapitelle, an den gemalten Anthemien der Verdachung der
Tür des Obergeschosses, an dem Anthemienband der Kassetten. Vor dem Fries fühlt man sich irgendwie etwa an die Trauf-
sima des athenischen Hekatompedon erinnert199) mit den um Scheiben sich windenden Achterschlingen oder an die ähnlich
verwendeten roten Scheibchen an archaischen Terrakottasimen von der Akropolis200), endlich an eine Terrakottasima aus
Olympia201), die Schede der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts zugewiesen hat. Archaisierend sind dann die Sichelflügel der
Löwengreifen, die Stilisierung ihrer Mähnen als Blattstab, die Sirenenflügel am Schemel des Sarkophages. Nun gibt es sicher
in der Entwicklung des Ornaments schon im 4. Jahrhundert Rücksprünge und Rückerinnerungen. So ist die Sima des
Mausoleums von Halikarnaß202) mit ihren strengen Anthemien merkwürdig rückständig. Fast archaisch wirkt das Ornament-
band, das Lethaby203) der Türumrahmung oder der Giebelsima des jüngeren Artemisions zugewiesen hat, noch stärker das
Fragment in Delphi204), nach Schede die Giebelsima des Apollotempels, nach Moebius205) allerdings bedeutend jünger, an
welchem deutlich die Anthemien des Siphnierschatzhauses nachgeahmt werden. Eindeutig archaisierend sind die Anthemien
an Sockel- und Gurtgesimse des Rundbaues der Arsinoe in Samothrake206), auf denen an den Lotosblüten auch unsere
Scheibchen auftreten. Auch im späthellenistischen Ornament sind Beispiele archaisierender Stilisierung zwar vorhanden,
aber spärlich und vereinzelt207). Von einem archaistischen Ornament im Sinne einer eigenen Schöpfung, wie das für die
Skulptur gilt, kann aber wohl kaum die Rede sein208).
G. Rodenwaldt209) hat sich vor den Friesen des Nereidenmonuments von Xanthos die Frage vorgelegt, ob die dort
191) Zum Palmblattkapitell vgl. R. Bohn, Altertümer von
Pergamon 2 (1885) S. 48 Anm. 1; C. Watzinger, Griechische Holz-
sarkophage aus der Zeit Alexanders des Großen (1905) S. 89;
J. Durm, Baukunst der Griechen3 (1910) S. 351f.; H. Pomtow,
Klio 13, 1913 S. 234ff.; E. Weigand, Vorgeschichte des korinthi-
schen Kapitells (1920) S. 15ff.
192) D. Levi, ASAtene 10-20, 1927-29 S. 187 Abb. 206,
S. 451 Abb. 586; G. Karo, AA 1931 Sp. 301 f. Abb. 38.
193) Pomtow a. a. O. S. 236f. Abb. 42f.
194) W. M. Flinders Petrie, Naukratis I (1886) S. 13 Taf. 3;
Pomtow a. a. O. S. 240 Abb. 47.
195) Durm a. a. O. S. 352 Abb. 339.
196) R. Bohn, Zeitschrift für Bauwesen 1882, S. 6f. des
Sonderabdrucks, Taf. 2.
197) R. Bohn, Altertümer von Pergamon 2 (1885) S. 47f.
Taf. 24 f.
19S) R. Bohn - C. Schuchhardt, Altertümer von Aegae.
Jdl ErgH 2 (1889) S. 21.
199) Antike Denkmäler I (1891) Taf. 50; M. Schede, Antikes
Traufleisten-Ornament S. 20f. Taf. 2, 7.
20°) E. Buschor, Die Tondächer der Akropolis (1929) Taf.
1-4.
201) R. Borrmann, Olympia II (1892) S. 195f. Abb. 13;
Schede a. a. O. S. 35 Taf. 3, 19.
202) Schede a. Anm. 187 a. O.; H. Möbius, Die Ornamente
der griechischen Grabstelen S. 33 Taf. 20b.
203) JHS 36, 1916 S. 31 f. Abb. 7.
204) H. Pomtow, Beiträge zur Topographie von Delphi
(1889) Taf. 7, 15; Schede a. a. O. S. 94f. Taf. 9, 55.
2°5) Möbius a. a. O. S. 33 Anm. 4.
206) A. Conze - A. Hauser - G. Niemann, Archaeologische
Untersuchungen auf Samothrake (1875) S. 83.
20’) Möbius a. a. O. S. 47.
205) E. Schmidt, Archaistische Kunst in Griechenland und
Rom (1922) S. 55: „Nachahmung archaischer Architekturformen
oder Ornamente ist gewiß nicht als ausgeschlossen zu betrachten,
aber es fehlt jegliches Anzeichen, daß sich derartige Fälle zu
Gruppen zusammenschließen oder gar eine kontinuierliche Ent-
wicklung darbieten könnten“; Möbius a. a. O. S. 84.
2O9) Griechische Reliefs in Lykien (1933) S. 13.
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Wir gelangen nun zu dem einzig erhaltenen bezeichnenden Glied der Innenarchitektur, dem Palmblattkapitell191). Es
ist, wie das älteste uns bekannte griechische Kapitell, das von Frati auf Kreta192), bezeugt, eine uralte Form, die, wenn
auch nicht alltäglich vorkommend, doch eigentlich den ganzen Ablauf der griechischen Architektur begleitet, in manchen
Perioden wie der archaischen und der hellenistischen häufiger, in anderen ganz spärlich vertreten. Für die erstere mag
neben Frati an die Kapitelle der Marmorthesauroi von Delphi193) und des Apollotempels von Naukratis194), für die helleni-
stische Zeit an die Attalidenbauten in Athen (die Eumenesstoa195) und die Stoa Attalos II196)) und in Pergamon (Nordstoa
des Athenabezirks197)), endlich an den Marktbau von Aegae198) erinnert werden. In seiner Formgebung steht nun unser
Kapitell der ersteren Gruppe näher als der zweiten. Den Kalathos umgeben breite, flach ansteigende, durch Mittelrippen
gegliederte Blätter von weicher und doch kraftvoller Bewegung. Das hellenistische Palmblattkapitell verwendet die alte
Form mehr spielerisch, stellt schmale, ungegliederte Blätter nebeneinander, läßt sie steiler, mit weniger Elastizität empor-
steigen. Die Blattenden werden meist zu Löffeln ausgehöhlt. Soll man nun das Palmblattkapitell von Belevi als Ausfluß
einer archaisierenden Tendenz auffassen ?
Es wäre jedenfalls nicht die einzige Spur einer solchen an unserem Bau. Man denke vor allem an den Fries mit den
um die großen roten Scheiben sich windenden S-Ranken, die dem unteren Teil desselben einen stark flächenhaften Charakter
verleihen und ihn in Gegensatz bringen zu den plastisch-naturalistisch durchgeführten Lotosblüten und Palmetten. Dasselbe
Motiv begegnet dann an den Innenhelices der korinthischen Kapitelle, an den gemalten Anthemien der Verdachung der
Tür des Obergeschosses, an dem Anthemienband der Kassetten. Vor dem Fries fühlt man sich irgendwie etwa an die Trauf-
sima des athenischen Hekatompedon erinnert199) mit den um Scheiben sich windenden Achterschlingen oder an die ähnlich
verwendeten roten Scheibchen an archaischen Terrakottasimen von der Akropolis200), endlich an eine Terrakottasima aus
Olympia201), die Schede der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts zugewiesen hat. Archaisierend sind dann die Sichelflügel der
Löwengreifen, die Stilisierung ihrer Mähnen als Blattstab, die Sirenenflügel am Schemel des Sarkophages. Nun gibt es sicher
in der Entwicklung des Ornaments schon im 4. Jahrhundert Rücksprünge und Rückerinnerungen. So ist die Sima des
Mausoleums von Halikarnaß202) mit ihren strengen Anthemien merkwürdig rückständig. Fast archaisch wirkt das Ornament-
band, das Lethaby203) der Türumrahmung oder der Giebelsima des jüngeren Artemisions zugewiesen hat, noch stärker das
Fragment in Delphi204), nach Schede die Giebelsima des Apollotempels, nach Moebius205) allerdings bedeutend jünger, an
welchem deutlich die Anthemien des Siphnierschatzhauses nachgeahmt werden. Eindeutig archaisierend sind die Anthemien
an Sockel- und Gurtgesimse des Rundbaues der Arsinoe in Samothrake206), auf denen an den Lotosblüten auch unsere
Scheibchen auftreten. Auch im späthellenistischen Ornament sind Beispiele archaisierender Stilisierung zwar vorhanden,
aber spärlich und vereinzelt207). Von einem archaistischen Ornament im Sinne einer eigenen Schöpfung, wie das für die
Skulptur gilt, kann aber wohl kaum die Rede sein208).
G. Rodenwaldt209) hat sich vor den Friesen des Nereidenmonuments von Xanthos die Frage vorgelegt, ob die dort
191) Zum Palmblattkapitell vgl. R. Bohn, Altertümer von
Pergamon 2 (1885) S. 48 Anm. 1; C. Watzinger, Griechische Holz-
sarkophage aus der Zeit Alexanders des Großen (1905) S. 89;
J. Durm, Baukunst der Griechen3 (1910) S. 351f.; H. Pomtow,
Klio 13, 1913 S. 234ff.; E. Weigand, Vorgeschichte des korinthi-
schen Kapitells (1920) S. 15ff.
192) D. Levi, ASAtene 10-20, 1927-29 S. 187 Abb. 206,
S. 451 Abb. 586; G. Karo, AA 1931 Sp. 301 f. Abb. 38.
193) Pomtow a. a. O. S. 236f. Abb. 42f.
194) W. M. Flinders Petrie, Naukratis I (1886) S. 13 Taf. 3;
Pomtow a. a. O. S. 240 Abb. 47.
195) Durm a. a. O. S. 352 Abb. 339.
196) R. Bohn, Zeitschrift für Bauwesen 1882, S. 6f. des
Sonderabdrucks, Taf. 2.
197) R. Bohn, Altertümer von Pergamon 2 (1885) S. 47f.
Taf. 24 f.
19S) R. Bohn - C. Schuchhardt, Altertümer von Aegae.
Jdl ErgH 2 (1889) S. 21.
199) Antike Denkmäler I (1891) Taf. 50; M. Schede, Antikes
Traufleisten-Ornament S. 20f. Taf. 2, 7.
20°) E. Buschor, Die Tondächer der Akropolis (1929) Taf.
1-4.
201) R. Borrmann, Olympia II (1892) S. 195f. Abb. 13;
Schede a. a. O. S. 35 Taf. 3, 19.
202) Schede a. Anm. 187 a. O.; H. Möbius, Die Ornamente
der griechischen Grabstelen S. 33 Taf. 20b.
203) JHS 36, 1916 S. 31 f. Abb. 7.
204) H. Pomtow, Beiträge zur Topographie von Delphi
(1889) Taf. 7, 15; Schede a. a. O. S. 94f. Taf. 9, 55.
2°5) Möbius a. a. O. S. 33 Anm. 4.
206) A. Conze - A. Hauser - G. Niemann, Archaeologische
Untersuchungen auf Samothrake (1875) S. 83.
20’) Möbius a. a. O. S. 47.
205) E. Schmidt, Archaistische Kunst in Griechenland und
Rom (1922) S. 55: „Nachahmung archaischer Architekturformen
oder Ornamente ist gewiß nicht als ausgeschlossen zu betrachten,
aber es fehlt jegliches Anzeichen, daß sich derartige Fälle zu
Gruppen zusammenschließen oder gar eine kontinuierliche Ent-
wicklung darbieten könnten“; Möbius a. a. O. S. 84.
2O9) Griechische Reliefs in Lykien (1933) S. 13.
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