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Die Form: Zeitschrift für gestaltende Arbeit — 5.1930

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Frank, Josef; Villon, Pierre: Ein Briefwechsel über Mode
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https://doi.org/10.11588/diglit.13711#0487

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EIN BRIEFWECHSEL ÜBER MODE

Auf Seite 70 der Nummer 3 der ..Form" steht
der Satz:

„Ein Problem für Statistiker: Wieviel Sekunden
müßte die Untergrundbahn länger an jeder Station
halten, wenn die Reisenden beim Aussteigen einen
Schritt Abstand hinter jeder Dame einhalten
müßten?"

Es ist dies meiner Ansicht nach kein ..Problem",
sondern könnte durch eine Anfrage bei der Leitung
der Untergrundbahn ohne weiteres erfahren werden,
da es ja zur Zeit der langen Kleider auch schon
Untergrundbahnen gegeben hat. Wenn sich nun, wie

Sehr geehrter Herr Professor,

eine Anfrage beim Sekretariat der Untergrundbahn
hat ergeben, daß eine Statistik der Haltezeiten an
den Stationen nicht besteht. Der Abteilungschef
Foitet, mit dem ich sprach, glaubt zwar, daß zur
Berechnung der Fahrtzeiten immer dieselben Se-
kundenzahlen zugrunde gelegt wurden. Das beweist
aber nicht, daß die Haltezeiten auch wirklich die-
selben sind, denn die Maschinisten sind am Gewinn
der Gesellschaft beteiligt und haben dadurch selber
Interesse daran, die Haltezeiten möglichst zu ver-
kürzen, und durch langsames Fahren den Stromver-
brauch einzuschränken.

Nehmen wir aber an, daß die durchschnittlichen
Haltezeiten immer dieselben geblieben sind, dann
beweist das — gar nichts. 1905 gab es 64 Stationen
mit einer Gesamtzahl von 148 700 210 Reisenden.
Dieselben 64 Stationen haben im Jahre 1924
220 635 523 Billette ausgegeben. Nun können Sie
mit Recht antworten, daß auch das nichts beweist,
da manche dieser Stationen inzwischen wichtige
Umsteigestationen geworden sind, also Billette für
verschiedene Linien ausgeben. Ich kann Ihnen
darauf erwidern, daß die Haltezeiten nicht von der
Zahl der auf dieser Station verausgabten Biileite
abhängt, sondern von der Zahl der Reisenden, die
an den betreffenden Haltestellen ein- und ausstei-
gen. Diese aber ist notgedrungen größer an einer
Umsteigestation, da auch Reisende von anderen,
nicht mitgezählten Billettschaltern hier ein- oder aus-
steigen. Doch ich verzichte von vornherein auf jede
Diskussion, denn gerade solche Zahlen sind nicht
vergleichbar. Die Zahl der Reisenden, die Zahl der
Waggons, die Zahl der Türen und ihre Breite, die
Frequenz der fahrenden Züge, das Verhältnis der
stark belasteten zu den mittelmäßig belasteten
Stationen, alle Faktoren haben sich geändert, also
kann man nicht einfach aus dem Resultat einen
Schluß auf einen einzigen Faktor, wie die Wirkung
der Länge der Frauenkleidung, ziehen.

Da Sie mit den ..Architekten und ähnlichen" wohl
auch mich beschuldigen, „sich nicht an Tatsäch-
liches zu halten, sondern sich auf Theorien zu
stützen, die mit der Wirklichkeit in keinerlei Zusam-

es ja zu erwarten ist, herausstellen würde, daß die
Wartezeiten die gleichen geblieben sind, so wäre
dies in doppeltem Sinn sehr lehrreich:

1. Als Beweis dafür, daß jede neue Damenmode doch
im wesentlichen andere Ursachen hat:

2. Eine Mahnung an die Architekten und ähnliche,
sich lieber an Tatsächliches zu halten und nicht
sich auf Theorien zu stützen, die mit der Wirk-
lichkeit in keinerlei Zusammenhang stehen.

Mit vorzüglicher Hochachtung

Ihr Josef Frank

menhang stehen", will ich Ihnen verraten, wie ich
auf den Gedanken kam, das „Problem" aufzustellen,
aus dem Sie so weittragende Schlüsse ziehen. Seit
sieben Jahren benutze ich die Untergrundbahn und
jedesmal, wenn vor mir eine Nonne den Wagen ver-
ließ, mußte ich warten, bis sie einen Schritt weiter
gegangen war, um ihr nicht auf das Kleid zu treten,
das natürlich noch einen Augenblick über den Rand
des Waggons schleift, da dieser um 15 bis 20 cm
höher als der Bahnsteig liegt, der Rand des Kleides
dagegen nur etwa 5 cm über dem Boden hängt. Das
fiel mir sehr unangenehm auf, weil bei stark besetz-
ten Wagen die Reisenden, die aussteigen wollen,
stark von hinten drängen, und ich dann meine ganze
Kraft aufwenden mußte, um der Schwester nicht
wider meinen Willen doch auf das Kleid zu treten.
Glauben Sie nun nicht doch. Herr Professor, daß
meine Theorien sich auf eine kleine Tatsache
stützen, die vielleicht ebenso wichtig zu nehmen ist
v/ie die Kenntnis der Haltezeichen an den Stationen
zu einer Zeit, wo man auch lange Damenkleider trug?

Doch da ich Ihnen nun so tiefe eigene Gedanken-
gänge enthüllt habe, möchte ich zu gerne wissen,
warum die Tatsache gleicher Wartezeiten ein Be-
weis dafür wäre, daß die neue Damenmode andere
Ursachen hat als die von mir angegebenen? Welche
sind denn diese anderen wesentlichen Ursachen?
Wenn Sie mir Ihre Meinung darüber gesagt haben,
bin ich bereit, mit Ihnen darüber zu diskutieren.
Vielleicht wird ein Artikel über Mode, den ich
für die „Form" geschrieben habe, Ihnen Gelegenheit
dazu geben. Was meinen Sie überhaupt, wenn Sie
von der neuen Damenmode sprechen, den letztjähri-
gen Versuch, bis zum Boden reichende Kleider ein-
zuführen oder die letzten Modelle, die nur höchstens
bei Abendkleidern bis zum Boden reichen, bei
Tageskleidern aber nicht tiefer als bis zur Mitte des
Unterschenkels gehen? Gerade diese letzten Mode-
formen beweisen übrigens, daß ich richtig voraus-
gesehen hatte in meinem Artikel, der November letz-
ten Jahres geschrieben wurde, als ich sagte, das
lange Nachmittagskleid würde sich nicht durch-
setzen.

Mit dem Ausdruck meiner vorzüglichen Hoch-
achtung Roger Ginsburger

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