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Die Form: Zeitschrift für gestaltende Arbeit — 5.1930

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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.13711#0619

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beitsgemeinschaft des Museums kann nur mit großer
Freude Lotzens anerkennende Worte zur Kenntnis
nehmen. Aber zwischen der „erstaunlich positiven
Arbeit, die in Neuraths Museum liegt" und den Aus-
führungen Neuraths auf der Werkbundtagung besteht
nicht nur eine zufällige Personalunion. Vielmehr ist
die malerische und museale Gestaltung des Wiener
Museums mit getragen von den Grundanschauungen,
denen Lötz nicht ohne Bedenken gegenübersteht.

Eine Ausstellung wie „Die Neue Zeit" ist Aus-
druck einer gewaltigen Umgestaltung. Sie kann
nicht in erster Reihe den Standpunkt einer kleinen
Gruppe leidenschaftlich begeisterter Neuerer ver-
treten; das könnte nur eine Ausstellung viel klei-
neren Umfangs. Es muß vielmehr auf solch einer
Ausstellung bei aller zentralistischen Planmäßigkeit
danach gestrebt werden, verschiedenartigsten Be-
mühungen Raum zu geben, weil sie mächtig und
lebendig sind, auch wenn sie von den Ausstellern
selbst nicht vertreten werden. Dieser Notwendig-
keit in erheblichem Ausmaß tolerant sein zu müssen,
kann man am ehesten genügen, wenn man nach mög-
lichst objektiven Grundsätzen auswählt, was man
zeigt. Man kann Bewegungen auf Grund der Zahl
ihrer Vertreter berücksichtigen. Aber die Zahl ist
auch bedeutsam für die soziologische Cha-
rakterisierung aller Erscheinungen. Wir lernen
eine Stadt, ein Land genauer verstehen, wenn
wir ihre soziologische Physiognomie studiert haben.
Große Wandlungen lassen sich in den Linien dieser
statistischen Physiognomie finden. Wir wissen sehr
viel über die Stadt eines bestimmten Gebietes,
wenn wir die Zahl der Morde kennen, der Diebstähle,
der Geburten, der Todesfälle, der Selbstmorde, der
Industriearbeiter und ihre Veränderungen. Wenn wir
sehen, daß in einer modernen Stadt die Zahl der
industriell und kommerziell Beschäftigten wächst,
die Zahl der Analphabeten sinkt, können wir mit
großer Wahrscheinlichkeit annehmen, daß die Zahl
der Geburten und Todesfälle sinkt, ebenso die Zahl
derer, die sich religiös betätigen, während die Zahl
der Selbstmorde steigt. Wir können das so erklären:
die Wandlungen, die mit der Industrialisierung und
Verstädterung vor sich gehen, mindern die Hemmun-
gen, welche den Selbstmord zu verhindern pflegen.
Es kann selbst bei wesentlicher Besserung der
Lebenslage unter Abnahme der Religiosität die Zahl
der Selbstmorde steigen, die dann, wenn die Religio-
sität einen erheblichen Tiefstand erreicht hat, viel-
leicht unter Zunahme des Lebensstandards sinkt.
Man kann vielleicht feststellen, daß der Prozentsatz
der Menschen, die sich wegen unheilbarer Krank-
heiten töten, wächst, während der Prozentsatz
derer, die aus unglücklicher Liebe dem Leben ein
Ende machen, abnimmt.

Ich habe ausdrücklich in meiner Ausführung er-
klärt, daß ich die Selbstmordziffer nicht für den kul-
turellen Gradmesser eines Volkes ansehe. Es ist
nicht so, daß mehr Selbstmorde mehr Kultur be-
deuten, wohl aber z e i g e n sie in der Gegenwart
wachsende moderne Kultur an, wie etwa eine stei-
gende Quecksilbersäule des Thermometers das Auf-
gehen der Sonne. Wenn Rationalisierung auftritt,
verbreitet sie sich über das ganze Dasein der
Menschen, gleichgültig, ob es sich um Stahlrohr-
möbel oder Geburtenregelung handelt; wenn wir
hören, daß in einer Stadt durchschnittlich 6 bis 14

Kinder auf eine Familie entfallen, dann ist es nicht
wahrscheinlich, daß in dieser Stadt ein erheblicher
Teil der Bevölkerung Stahli(^mibfiJtieja«nrlet*|*
Wenn wir noren, daBTri einem eDropaiscnen WeDiet* ♦
die Analphabetenziffer sett&gtöpä&R kann man mit
großer Wahrscheinlichkeit annehmen, daß in diesem
Gebiet eher Gewalttätigkeit als Betrug in größerer
Menge auftritt. Man kann das Anwachsen der
Selbstmordziffer beklagen und doch feststellen, daß
wenn man Jahrzehnte ins Auge fast, mit wachsender
Bildung, abnehmender Roheit ein Wachsen der
Selbstmordziffer parallel geht. Was für Lob und
Tadel zu wissen wichtig ist, zeigt uns die Statistik,
die selbst weder Lob noch Tadel verteilt.

DieZahlensprechen. Es gibt nicht neben
der Welt, die wir wahrnehmen, eine zweite, die nach
Lötz aus den „geheimen, merkwürdigen, triebhaften
Kräften der Menschen einer Epoche und der Mas-
senpsychologie" besteht, es gibt nicht neben den
Tatsachen eine besondere „Kraft der Ideen". Ge-
rade indem,wasunsdieErfahrungzeigt,
in den Zahlen der Selbstmorde, in den Zahlen der
Geburten, in den Zahlen der Leichenverbrennungen,
in den Zahlen der Häuser mit Badeeinrichtungen, in
allem, was wir erfassen, zeigt sich das, was man als
„triebhafte Kräfte", als „Kraft der Ideen" be-
zeichnet.

Es ist ein Irrtum, wenn Lötz meint, wer die
sozialen Vorgänge zahlenmäßig erfasse, „unter-
scheidet nicht krankhafte und gesunde Kräfte im
Leben einer Kulturgemeinschaft und ist daher leicht
geneigt, Selbstmordstatistik und Wohnungseinrich-
tungsstatistik als falsche Größen in die Rechnung
einzusetzen". Ich glaube, Lötz wird kaum eine Aus-
stellung finden, die mehr als das Gesellschafts- und
Wirtschaftsmuseum in Wien durch seine Mengen-
bilder die Konsequenzen von Einrichtun-
gen für Gesundheit und Krankheit, Freude und Leid
der Menschen festzustellen und jedermann deutlich
sichtbar zu zeigen sucht. Es gibt nicht neben den
gesunden Kindern, neben den Menschen, die in grü-
nen Gärten Blumen pflegen, die baden und wandern,
neben Tuberkulösen, die mit anderen im selben Bett
schlafen, neben den rachitischen Kindern, neben
den hungernden Arbeitslosen „geheime" und „merk-
würdige" Kräfte.

Wir sprechen von der „Neuen Zeit", wir mühen uns,
nicht nur wissenschaftlich zu beschreiben, was ist,
sondern sie mit zu gestalten. Der Glaube an die Zu-
kunft zeigt sich in unseren Voraussagen über die
Zukunft, in Voraussagen, die sich zahlenmäßig
formulieren lassen.

Wenn wir „glauben", daß bestimmte Lebensformen,
die Möbelformen der neuen Zeit eigentümlich sein
werden, so heißt das, wir stellen die Prognose, daß
die Zahl der Menschen, die diese neue Lebensform
zeigen, die diese Möbel verwenden werden, zunimmt.

Zahlen sprechen! Lötz dagegen meint: „Wir
wollen uns doch darüber klar sein, daß es rein
gar nichts besagt, wenn man feststellt, wie-
viel modern eingerichtete Wohnungen es gibt, denn
man kann ja nicht feststellen, wie viele Menschen
es gibt, die sich gerne modern einrichten würden,
und man kann auch nicht untersuchen, aus welchen
oft recht äußerlichen Gründen die Menschen eine
alte Wohnungseinrichtung besitzen." Es besagt
schon allerlei, wenn aus was immer für einem

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