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Die Form: Zeitschrift für gestaltende Arbeit — 7.1932

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Riezler, Walter: Die soziologische These
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https://doi.org/10.11588/diglit.13707#0314

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stimmt worden, sondern auch die weltliche Musik des
18. und 19. Jahrhunderts ist in ihrer Entwicklung von
der Entwicklung der Gesellschaft abhängig und in
jeder ihrer Phasen bis zu einem gewissen Grade be-
stimmt von der gesellschaftlichen Struktur. Es ist ganz
richtig, daß ein Werk wie Beethovens neunte Sin-
fonie innerhalb der höfisch gebundenen Gesell-
schaft des 18. Jahrhunderts nicht denkbar ist, und es
kann der Musikgeschichte gar nicht schaden, wenn sie
diese Zusammenhänge mehr als bisher beachtet. Es
ist gar nicht ausgeschlossen, daß von da aus nicht nur
auf die äußere Erscheinung, sondern auch auf das
innere Wesen des Werks manch neues Licht fallen
würde. Und das gleiche ließe sich ohne Schwierigkeit
auch für die anderen Künste, also die Dichtung und
die bildende Kunst erweisen, — wo übrigens die For-
schung schon längst begonnen hat, wenigstens in
Einzelfällen diesen Zusammenhängen ihre Aufmerk-
samkeit zu schenken.

Damit ist aber das soziologische Problem noch kei-
neswegs in seinem ganzen Umfang gekennzeichnet.
Der Künstler empfängt nicht nur von der Gesellschaft
seine Aufträge, und die „Gesellschaft" bietet ihm nicht
nur den „Stoff", den er gestaltet, — sondern er selber
ist ja auch ein Glied dieser Gesellschaft und daher so
gut wie jeder andere Zeitgenosse an ihre Struktur ge-
bunden. Die Frage, wie tief diese Bindung geht, ist
bekanntlich ein Gegenstand leidenschaftlichen Strei-
tes zwischen den relativistisch eingestellten Soziologen
und denjenigen, die an die Unveränderlichkeit der
Menschennatur glauben. Der Streit braucht uns hier
im einzelnen nicht zu kümmern, — vielleicht läßt sich
gerade von der Betrachtung der Kunst aus beweisen,
daß die Wahrheit hier wirklich einmal in der Mitte
liegt, oder daß „beide recht haben". Jedenfalls geht
es in einer Zeit, die die Bedeutung der „Umwelt" so
klar erkannt hat und die immer mehr geneigt ist, alles
unter dem Gesichtspunkt der „Ganzheit", also der
Bestimmtheit des Einzelnen von übergeordneten
Strukturgesetzen aus, zu betrachten, nicht mehr an,
zu leugnen, daß jeder Mensch so wie er ist nur in
dem Augenblick und in der Umwelt sein kann, in der
er lebt. Schon Goethe hat gesehen und ausge-
sprochen, daß jeder Mensch anders wäre, wenn er
nur zehn Jahre früher oder später geboren wäre.
Und so wird man auch vom Kunstwerk sagen dürfen,
daß es so wie es ist nur in dem einen
Augenblick entstehen konnte, — und
zwar weniger deshalb, weil jeder Künstler, auch der
schöpferisch genialste, bis zu einem sehr hohen
Grade an das Material von Formen gebunden ist,
das ihm die Zeit, d. h. die Kunst der ihm voraus-
gehenden Generation bietet, als vor allem deshalb,
weil die subjektive Komponente seines Werks mit
durch die seelische Lage der Zeit bestimmt wird, der
der Künstler selbst angehört.

Nun ist diese Tatsache der Kunstwissenschaft längst
bekannt und von ihr wenigstens in formaler Hinsicht
gerade in der letzten Zeit ausgiebig berücksichtigt
worden: nur weil man an diese Bindung des Kunst-
werks an die formale Gegebenheit des Augenblicks
glaubte, konnte man die stilkritische Methode bis zu
dem hohen Grade von Verfeinerung entwickeln, wie
es vor allem durch Wilhelm Pinder geschehen ist.
Man glaubt heute wohl mit Recht, die Kunstwerke der
meisten und wichtigsten Epochen rein nach den Kri-
terien ihrer formalen Struktur mindestens auf zehn
Jahre genau datieren zu können: ein Werk kann ein-
fach so wie es ist in keinem anderen Augenblick ent-
standen sein. Und es bedeutet keinen Wechsel der
Methode sondern nur deren Anwendung auf ein
größeres Gebiet, wenn man nun grundsätzlich ver-
suchen wollte, über das rein Formal-Stilistische hinaus
die seelische Totalität des Kunstwerks in gleicher
Weise in ihrer Gebundenheit an die seelische Struk-
tur des Augenblicks zu untersuchen. Dies kann natür-
lich niemals mit der gleichen Exaktheit gelingen, da
es ja andere seelische Strukturen von der Bestimmt-
heit der künstlerischen Form nicht gibt. Immerhin aber
ist die Aufgabe lohnend genug, vor allem dann, wenn
sie der Erkenntnis der allgemeinen Zeitstruktur durch
die Untersuchung der gleichzeitig entstandenen
Werke der verschiedenen Künste nahe zu kommen
sucht. (Wie es von Dagobert Frey in seinem in der
„Form", Heft 12, 1931 besprochenen Buche über „Gotik
und Renaissance alsGrundlagen unsererWeltanschau-
ung" mit großem Erfolge unternommen worden ist.)
Eine Zeitstruktur als Totalität zu erfassen, wird aller-
dings immer unmöglich bleiben, da jeder geschicht-
liche Augenblick von ungeheurer Komplexität ist.

So scheinen die Soziologen ja in der Tat mit ihrer
Tendenz der Relativierung recht zu behalten, und sie
könnten zu den bisherigen Argumenten leicht noch
ein sehr beweiskräftiges hinzufügen: daß erfahrungs-
gemäß der oft unternommene Versuch, ein Kunstwerk
im Sinne einer früheren Epoche zu schaffen, jedesmal
gescheitert ist, d.h. daß derartige Werke, etwa die der
klassizistischen Epoche um 1800 entweder der echten
Lebenskraft ermangeln — eben weil sie gegen die
Strukturgesetzlichkeit der eigenen Epoche entstanden
sind —, oder aber schon sehr bald, sowie nur einiger
zeitlicher Abstand gewonnen ist, als nur scheinbar
und ganz äußerlich dem alten ähnlich, in Wirklichkeit
aber als echte Kinder der lebendigen Gegenwart er-
kannt werden. Aber so einfach ist die Sache nicht,
und der Streit ist damit noch lange nicht entschieden.
Die Gegner der Relativisten können mit der sehr ge-
wichtigen Frage kommen: v/ie es denn dann möglich
sei, daß ein Kunstwerk, das doch angeblich unlösbar
an die seelische Struktur seiner Zeit gebunden ist,
auch noch in einer Zeit von ganz anderer Struktur
und ohne Wissen um das Wesen jener Struktur „ver-

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