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Münsterbau-Verein <Freiburg, Breisgau> [Hrsg.]
Freiburger Münsterblätter: Halbjahrsschrift für die Geschichte und Kunst des Freiburger Münsters — 1.1905

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Sauer, Joseph: Das Freiburger Münster im Licht der neuesten Forschung
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https://doi.org/10.11588/diglit.2395#0051

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Kleine Mitteilungen und Anzeigen

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„Der Freiburger Turm", meint Dehio, „verhält sich zu
seinen Vorfahren wie die Erfüllung zur Verheißung; die
Auflösung in klares Maßwerk, das überall das Himmels-
blau durchscheinen lässt, ist zum erstenmal vom Frei-
burger Meister gewagt und sicher die kühnste Eman-
zipation des absoluten Kunstzwecks vom Gebrauchs-
zweck, zu der die gotische Bauidee gelangen konnte."1
Dass die Anschwellung der Pyramide nicht das zufällige
Ergebnis von Unachtsamkeit darstellt, weiß man jetzt
nach den Auseinandersetzungen zwischen Geymüller,
Redtenbacher und Meydtenbauer in der „Deutschen Bau-
zeitung"; es liegen hier offenbar künstlerische Absichten
vor, die wir schon in der altgriechischen Kunst nach-
weisen können und die nach den Untersuchungen
von Goodjear1 auf dem Wege über die byzantinische
Kunst auch in die mittelalterliche Aufnahme gefunden
haben.

Muss man somit dem Meister des Turmes rück-
haltslose Bewunderung zollen, so brauchen wir deshalb
noch nicht alles als genial zu betrachten, was uns der
Bau sonst noch zeigt. Die Anerkennung von den er-
staunlichen Leistungen der Gotik darf uns keinen Augen-
blick ihre etwaigen Fehlgriffe als bewundernswürdige
Schöpfungen erscheinen lassen oder alles mit der Etikette
„künstlerische Freiheit" decken. Es mag noch angehen,
die Verbreiterung des Mittelschiffes nach Osten, wie
auch den Umstand, dass die östlichen Mittelschiffpfeiler
um 0,43 m weiter voneinander abstehen als im Westen,
auf das Bestreben zurückzuführen, eine künstlerisch
wirkungsvolle Perspektive zu erzielen. Nicht oder doch
nur sehr ungenügend kann man aber das gleiche Motiv
geltend machen für die Breitendifferenz zwischen den
beiden Seitenschiffen (das nördliche schmäler als das
südliche) oder für die Brechung der Längsachse beim
Choransatz oder gar für die Beeinträchtigung der West-
rosetten durch die zu nieder ansetzenden Seitenschiff-
gewölbe. Die südliche Ausbiegung der Chorachse wird seit
Durandus - - das einzige Beispiel, dass er auf individuelle
Baueigentümlichkeiten zu sprechen kommt - gemeinig-
lich als symbolischer Hinweis auf das im Tode geneigte
Haupt Christi angesehen. Tatsächlich findet sich diese
Achsenbrechung viel häufiger als man glaubt; aber in
den allermeisten Fällen, die man noch kontrollieren
kann, hat sich gezeige, dass ganz andere Gründe als
jene tiefsinnig spekulative Ausdeutung, entweder lokale
Hindernisse oder Unachtsamkeit, letzteres meist, wenn
der Neubau allmählich an Stelle eines bisher schon be-
stehenden trat, jene Unregelmäßigkeit verursacht haben :i.
Hätte das Mittelalter ganz so allgemein wie man heute
vielfach davon redet, unter dem Banne jener tiefsinnigen
Spekulation gestanden, so hätte ein Metzer Meister, der
eine solche Achsenbrechung angebracht hatte, aus Ärger
über die Aufregung in der Bevölkerung nicht zu sterben

' G. Dehio und G. von Bezold, Die kirchliche Baukunst des
Abendlandes 2 (Stuttgart 1901), S. 310.

- American Journal of Archaeol. 1902, S. 166 ff.

,! Gegen die symbolische Ausdeutung der Achsenver-
schiebung hat sich neuerdings wieder in der Sitzung der Academie
des Inscriptions et des Belles-Lettres vom 21. Okt. 1904 auch
Mr. de Lastregrie ausgesprochen; auch dieser Gelehrte sieht in
dieser Unregelmäßigkeit nur eine Folge unvollkommener An-
einandergliederung verschiedener Bauteile. Ihm gegenüber hält
Salomon Reinach wenigstens für einzelne Fälle noch an der
symbolischen Erklärung fest. Vgl. Bullet, critique 1904, p. 660.
Freiburger Münsterblätter I, 1,2.

brauchen. Bei der Art und Weise, wie der Freiburger
Bau allmählich entstanden ist und der Chor an das
schon lange vorhandene Querschiff an Stelle des bis-
herigen romanischen angegliedert wurde, liegt eine
solche Abweichung der Längsachse ziemlich nahe. Sieht
man von diesen Einzelheiten ab, so wird man unbedingt
P. Beissel zustimmen können, wenn er meint, die Meister
des Freiburger Münsters seien im Gebrauch der weit-
gehendsten künstlerischen Freiheit belassen worden, ohne
von kleinlichen unkünstlerischen Forderungen vonseiten
der Pfleger oder der Bevölkerung eingeengt gewesen zu
sein; sie haben in den einzelnen Formen den ganzen
Wandel der Gotik unverfälscht mitgemacht und doch
unter Wahrung des einheitlichen Konstruktionsgedankens
ein Werk von großartig harmonischer Wirkung geschaffen.
Das zu betonen mag auch heute noch angebracht sein
allen Fanatikern des Purismus gegenüber, die einen Bau
nur sehen können in der einheitlich regelmäßigen Formen-
sprache einer kurz abgegrenzten Epoche.

Der Portalzyklus, über den Beissel weiterhin be-
richtet, ist seit Moriz-Eichborns ausgiebiger Publikation
Gegenstand lebhafter Diskussion geworden. Sowohl das
stilkritische Resultat der letzteren, wonach dieser Zy-
klus das vollendetere Vorbild des Straßburger, „der Straß-
burger Stil nichts weiter als eine (vergröberte, trockene)
Fortsetzung des Freiburger sei", als auch das Ergebnis
der ikonographischen Untersuchung, in der als geistige
Urheber des Zyklus die hiesigen Dominikaner, näherhin
ihr „inniger Freund", Konrad von Würzburg, nachgewiesen
werden sollen, haben bestimmte und fast allgemeine Ab-
lehnung gefunden, das erstere u. a. durch Streiter i,
das letztere trotz der unglücklichen Sekundierung von
dritter Seite in völlig überzeugender historischer Argu-
mentation durch Finke7'. Was ich bei anderer Gelegen-
heit hervorgehoben habe gegenüber der heute so viel-
fach verbreiteten Sucht, für jedes mittelalterliche Werk,
noch bevor man es richtig und im Zusammenhang mit
andern betrachtet hat, sofort einen Inspirator, eine be-
stimmte historische Einzelpersönlichkeit als Urheber des
Programms ausfindig machen zu wollen, das darf auch
hier betont werden. So tiefsinnig und gehaltvoll dieser
Zyklus auch ist, so sehr er die ganze Heilslehre des
Mittelalters mit ihrem weitverzweigten Gefüge, eine
richtige und vollständige Summa theologica darstellt, er
ist kein Unikum für jene Zeit und darum auch nicht
das geistige Eigentum eines einzelnen oder einer Kor-
poration; er ist herausgewachsen aus der ganzen ein-
heitlichen Weltanschauung jener Tage und er kehrt, weil
in ihm alles sich zusammenfassen ließ, was über die
geistige, durch das Gotteshaus symbolisierte Kirche zu
sagen war, in mehr oder weniger großer Vollständigkeit
an allen bedeutenderen Kathedralen des Mittelalters
wieder: er ist die prägnanteste und grandioseste Monu-
mentalaufschrift, die je über einem Gebäude angebracht
worden ist, verständlich dem gewöhnlichen Mann wie
dem Gebildeten und Gelehrten.

Außer den Portalskulpturen haben noch drei Gruppen
von Bildwerken des Münsters in jüngster Zeit eine ein-
gehendere Bearbeitung erfahren. Es sind das zunächst die
Statuen an den Außenseiten des Turmes, deren Deutung
jetzt erstmals Kreuzer in einer überaus sorgfältigen und

1 Allg. Ztg. 1901 Beil. 103/05 und 215, 216.
5 Alemannia N. F. 2 (Freiburg i. Br. 1901) S. 129 ff.

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