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Friedländer, Max J.; Perls, Hugo
Über die Malerei — München: Bruckmann, 1963

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https://doi.org/10.11588/diglit.51055#0292
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Gesellschaft, die mit ihrem Geschmack das Thematische der Kunst be-
stimmte. Das Stilleben fand bei den Briten noch weniger freundliches Ent-
gegenkommen als am französischen Hof und in den deutschen Residen-
zen, die sich nach Versailles richteten.
Daß die britischen Maler, die im 18. und ig. Jahrhundert so Großes im
Porträt und in der Landschaft geschaffen haben, dem Stilleben keine Teil-
nahme zuwandten, trotz entschiedener Begabung für malerische Sehweise,
bildet ein zum Nachdenken anregendes Problem. Dieser Mangel an
Interesse ist im überaus reichen englischen Kunstbesitz zu beobachten,
sogar in der universellen National Gallery, wo die holländische Malkunst
glänzend vertreten ist, van Beyeren und Kalf jedoch fehlen. Von den an-
gedeuteten Ursachen abgesehen, mögen das tatkräftige Wesen des Volkes
und das Leben im Freien von der andächtigen Beschäftigung mit »toten«
Dingen abgelenkt haben. Wenn das Stilleben in Frankreich mit Passion
gepflegt wurde, spät, vorzüglich von Chardin, dann im ig. Jahrhundert von
den sogenannten Impressionisten, so wird dadurch bestätigt, daß es dieser
Bildgattung zugute kam, wann und wo die Kunst »um der Kunst willen«,
unter eigenem Recht, zur Entfaltung gelangte. Und wieder, in Frank-
reich, war das Bürgertum dem Stilleben zugetan, nun das kapitalistische,
das die höfische Gesellschaft und die heroisch gesinnte kaiserliche abge-
löst hatte. Frieden und Demokratie und Sattheit förderten die Pflege des
Stillebens. Frieden ist um so mehr Frieden, als er auf schwere Kämpfe ge-
folgt ist, auf die holländischen Freiheitskämpfe, auf die Kriege Napoleons,
auf die Revolutionen und Staatsstreiche.
Die Wandlung des Kunstsinnes und der Kunstlehre, die das Aufkommen
des Stillebens ermöglichte, in Verbindung mit der gesellschaftlichen Um-
schichtung, mag durch die folgenden Antithesen beleuchtet werden:
Autokratie — Demokratie,
die Kunst dienstbar — die Kunst autonom,
geistige Gestalten — sinnliches Aufnehrnen,
Tatkraft — Kuhebedürfnis,
Sehweise des Plastikers — Sehweise des Malers.
In der niederländischen Malerei des 15. und 16. Jahrhunderts verfolgt der
Historiker das Aufkeimen des Stillebens. Zuerst im Andachtsbild die Aufgabe,
tote Dinge als Attribute einzuführen, etwa das Rad der heiligen Katharina
oder den Korb der heiligen Dorothea. Sodann, willkommene Gelegenheit,
innerhalb des Kirchenbildes die schlummernde Lust am Stilleben zu wecken.

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