schmack erwachen später als Instinkt, Gefühlsleben und — beim Wunderkinde —
Geschicklichkeit der Hand. Die Empfänglichkeit der Sinne nimmt mit Reifung des
Verstandes ab. Das Kind wahrt den kostbaren Schatz der Naivität leichter als der
Erwachsene, der Rücksicht nimmt auf den Zeitgeist und dem „tödlichen Wissen"
ausgesetzt ist. Das Wunderkind ist nicht in jedem Sinne ein Kind, wird dessen un-
geachtet von Eltern und Lehrern wie ein Kind behandelt und gemeistert. Seelische
Einsamkeit, das Gefühl, nicht verstanden zu werden, bemächtigen sich des vorzeitig
produktiven, des unkindlichen Kindes.
Ich entsinne mich, wie mir Herr v. Tschudi in der Münchener Pinakothek vor
Jahren Zeichnungen vorwies von 8 und io Jahre alten Knaben und dabei sarkastisch
bemerkte: hier in München kann niemand mehr zeichnen, wann er das 18. Jahr
überschritten hat. In diesem Scherze verbarg sich als ernster Kern ein Vorwurf
gegen akademische Schulung. Nun drohte dem Leidener Lucas zu Beginn des
16. Jahrhunderts keine akademische Zwangsjacke, aber auch durch handwerkliche
Gepflogenheit konnte produktive Ursprünglichkeit gehemmt werden, zumal in
einer Zeit, in der sich der „Künstler" aus zunftmäßiger Gebundenheit zu lösen
begann.
Van Manders Bericht enthält, außer der Aufzählung von Stichen und Gemälden,
die Lucas geschaffen habe, einige Aussagen, die, in Verbindung mit stilkritischen
Beobachtungen, die erstaunliche Frühreife bestätigen. Lucas, so erzählt der Bio-
graph, lernte zuerst bei seinem Vater, der ein ausgezeichneter Maler war. Nach
dem Ableben des Vaters trat er in die Lehre des uns wohlbekannten Meisters
Cornelis Engelbrechtsen. Ein Irrtum liegt insofern vor, wie der Vater den Sohn
überlebt hat. Da der Kupferstich von 1508 nach Auffassung, Komposition und
Formensprache mit der Schaffensweise Engelbrechtsens weniger zusammengeht als
die 1509 datierte „Runde Passion", sieht es so aus, als ob Lucas gerade 1509 mit
der erfolgreichen Leidener Werkstätte in Verbindung getreten sei, und dies wäre
lyjährig, im normalen Lehrlingsalter. Zu dieser Annahme stimmt auch van Man-
ders Satz, Lucas sei während seiner Lehrzeit befreundet gewesen mit dem um
1492 geborenen ältesten Sohne seines Lehrers, mit Pieter Cornelisz. Erheblich vor
1494 geboren, wäre Lucas beträchtlich älter als Pieter Cornelisz gewesen. Und
Gleichaltrigkeit der Freunde ist wahrscheinlich.
Allerdings, wenn Lucas 1509 in die Werkstätte Engelbrechtsens eintrat, nachdem
er selbständige Tätigkeit hinter sich hatte, muß er als ein Unruhe stiftender Geist
in den gefestigten Betrieb eingebrochen sein.
Im stilkritisch greifbaren Verhältnis des seltsamen Lehrlings zu Engelbrechtsen
liegt ein Argument mehr dafür, daß Lucas 1494 zur Welt gekommen sei. Nehmen
wir nämlich an, er habe, etwa 1484 geboren, den Mahomet-Stich im Alter von
25 Jahren, also im üblichen Alter beginnender Meisterschaft, ausgeführt, wie wäre
es dann zu erklären, daß er sich noch 1509 dem älteren Meister, dem er sich über-
legen fühlen mußte, genähert habe? War er dagegen 1508 erst 14 oder 15 Jahre alt,
so werden Unterwerfung, Umschwung und Anpassung an den herkömmlichen Be-
trieb eher begreiflich.
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Geschicklichkeit der Hand. Die Empfänglichkeit der Sinne nimmt mit Reifung des
Verstandes ab. Das Kind wahrt den kostbaren Schatz der Naivität leichter als der
Erwachsene, der Rücksicht nimmt auf den Zeitgeist und dem „tödlichen Wissen"
ausgesetzt ist. Das Wunderkind ist nicht in jedem Sinne ein Kind, wird dessen un-
geachtet von Eltern und Lehrern wie ein Kind behandelt und gemeistert. Seelische
Einsamkeit, das Gefühl, nicht verstanden zu werden, bemächtigen sich des vorzeitig
produktiven, des unkindlichen Kindes.
Ich entsinne mich, wie mir Herr v. Tschudi in der Münchener Pinakothek vor
Jahren Zeichnungen vorwies von 8 und io Jahre alten Knaben und dabei sarkastisch
bemerkte: hier in München kann niemand mehr zeichnen, wann er das 18. Jahr
überschritten hat. In diesem Scherze verbarg sich als ernster Kern ein Vorwurf
gegen akademische Schulung. Nun drohte dem Leidener Lucas zu Beginn des
16. Jahrhunderts keine akademische Zwangsjacke, aber auch durch handwerkliche
Gepflogenheit konnte produktive Ursprünglichkeit gehemmt werden, zumal in
einer Zeit, in der sich der „Künstler" aus zunftmäßiger Gebundenheit zu lösen
begann.
Van Manders Bericht enthält, außer der Aufzählung von Stichen und Gemälden,
die Lucas geschaffen habe, einige Aussagen, die, in Verbindung mit stilkritischen
Beobachtungen, die erstaunliche Frühreife bestätigen. Lucas, so erzählt der Bio-
graph, lernte zuerst bei seinem Vater, der ein ausgezeichneter Maler war. Nach
dem Ableben des Vaters trat er in die Lehre des uns wohlbekannten Meisters
Cornelis Engelbrechtsen. Ein Irrtum liegt insofern vor, wie der Vater den Sohn
überlebt hat. Da der Kupferstich von 1508 nach Auffassung, Komposition und
Formensprache mit der Schaffensweise Engelbrechtsens weniger zusammengeht als
die 1509 datierte „Runde Passion", sieht es so aus, als ob Lucas gerade 1509 mit
der erfolgreichen Leidener Werkstätte in Verbindung getreten sei, und dies wäre
lyjährig, im normalen Lehrlingsalter. Zu dieser Annahme stimmt auch van Man-
ders Satz, Lucas sei während seiner Lehrzeit befreundet gewesen mit dem um
1492 geborenen ältesten Sohne seines Lehrers, mit Pieter Cornelisz. Erheblich vor
1494 geboren, wäre Lucas beträchtlich älter als Pieter Cornelisz gewesen. Und
Gleichaltrigkeit der Freunde ist wahrscheinlich.
Allerdings, wenn Lucas 1509 in die Werkstätte Engelbrechtsens eintrat, nachdem
er selbständige Tätigkeit hinter sich hatte, muß er als ein Unruhe stiftender Geist
in den gefestigten Betrieb eingebrochen sein.
Im stilkritisch greifbaren Verhältnis des seltsamen Lehrlings zu Engelbrechtsen
liegt ein Argument mehr dafür, daß Lucas 1494 zur Welt gekommen sei. Nehmen
wir nämlich an, er habe, etwa 1484 geboren, den Mahomet-Stich im Alter von
25 Jahren, also im üblichen Alter beginnender Meisterschaft, ausgeführt, wie wäre
es dann zu erklären, daß er sich noch 1509 dem älteren Meister, dem er sich über-
legen fühlen mußte, genähert habe? War er dagegen 1508 erst 14 oder 15 Jahre alt,
so werden Unterwerfung, Umschwung und Anpassung an den herkömmlichen Be-
trieb eher begreiflich.
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