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liehen Geistern eine leidenschaftliche Gefühlsweise empor, wie im Schaffen Dürers,
Granachs und Altdorfers — als Gewitterstimmung vor Ausbruch der Reformation
— zu beobachten ist. Diese Seelenfarbe weicht bald. Altdorfer wird gefällig und
liebenswürdig, Granach landet bei bürgerlicher Selbstzufriedenheit, und in Dürer
stürmte, als er die Apokalypse schuf, ein kämpferisches Pathos, das bald darauf
geklärt und gesänftigt wurde.
Von den Niederländern vollzieht niemand die Wandlung in so raschem Tempo
wie Lucas. Unnatürliche Frühreife, weibliche Empfänglichkeit mögen den Ablauf
beschleunigt haben. Wie wenn er den frühen Tod geahnt habe, scheint er zu eilen
und zu hasten. In seinem Schaffen äußert sich die Bedrücktheit in den Anfängen
original, indessen die Freiheit, die Kühnheit der späteren Jahre, angemaßt wirkt.
Man glaubt wahrzunehmen, daß er sein Antlitz mit wechselnden Masken verdeckt.
Dürer wurde ihm ein gefährliches, Marc Anton ein verderbliches Vorbild.
Im Angesichte der späteren Werke kommt uns das herabsetzende Urteil „Ma-
nier" auf die Zunge. Der Begriff „Manier" ist jedoch im Gebrauch so verschlissen
geworden, daß ich präzisieren möchte, was in diesem Falle darunter zu verstehen ist.
Der Bildner schöpft aus zwei Quellen, aus der unmittelbaren Naturbeobachtung
einerseits und andererseits aus Kenntnis von Formidealen, die gültig sind, die er
für gültig hält. Dieses Begriffspaar deckt sich einigermaßen mit dem von einem
geistvollen Literaturhistoriker aufgestellten, der antithetisch „Urerlebnis" von „Bil-
dungserlebnis" unterscheidet. Bei gesteigerter Übung und Bereicherung seines Wis-
sens macht sich der Meister mehr und mehr frei von der Beobachtung. Die eine
Quelle versiegt in dem Grad, indem die andere reichlicher quillt. Vorurteile in
bezug auf den Kunstwert des Sichtbaren schränken die Beobachtung ein. Die Natur
in ihrer unerschöpflichen Vielfältigkeit ist als die Quelle des Reichtums durch
nichts zu ersetzen. Der Bildner gleitet in die Manier hinein, deren eines Merkmal
Monotonie ist. Wohl gilt der Satz: je mehr jemand weiß, um so mehr sieht er. Aber
auch das Gegenteil trifft zu. Eckermann sagt einmal zu Goethe: Sie scheinen an-
deuten zu wollen, daß man um so schlechter beobachte, je mehr man weiß. Und
Goethe bestätigt dies mit den Worten: allerdings, wenn das überlieferte Wissen
mit Irrtümern verbunden. Nun: das dem Holländer aus der Fremde, im Besonderen
von Dürer und Marcanton, überlieferte Wissen war sicherlich mit Irrtümern ver-
bunden.
Die Erinnerung an eigene Blickerlebnisse wurde durch erlernte Formideale
verdrängt. Marcantons Interpretation der Raphael-Kunst war schon deshalb ein
bedenkliches Muster für den Holländer, weil ihm die Kunst Raphaels in originaler
Erscheinung unbekannt war, unerreichbar ferne lag. Was aber die von Dürer aus-
gehende Lehre angeht, bemächtigte Lucas sich der Ergebnisse einer geistigen Arbeit,
an der er nicht teilgenommen hatte.
Als Lucas vom Baume der Erkenntnis genossen hatte, wähnte er, zu wissen, wie
Dieses, wie Jenes zu bilden wäre, fühlte er sich gesichert im Besitze der Regel,
des Schemas. Damit war die Pforte zur Manier geöffnet, und zum Wesen der
Manier gehört es, daß sie nicht aufhört, ihre Herrschaft zu steigern — nach dem

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