DIE ZEICHNUNGEN
Wir glauben, etwa 35 Zeichnungen von des Meisters Hand zu besitzen, und
schmeicheln uns mit der Hoffnung, aus ihnen, wie aus einem Tagebuche, Persön-
liches und Intimes zu erfahren. Nun sind uns aus dem „Tagebuche" nur wenige
Seiten erhalten. Immerhin, wenn wir mit Vorsicht die Zeugen befragen, mag es
gelingen, etwas über die Arbeitsweise des Meisters festzustellen und die bei Betrach-
tung der Stiche und der Gemälde gewonnene Einsicht zu ergänzen.
Die Zeichnungen sind verschieden voneinander, in Anbetracht der technischen
Mittel — Feder, Metallstift, Kreide —, ferner weil sie keineswegs gleichzeitig ent-
standen sind, endlich, was jeweils die Absicht des Zeichners betrifft. Wir finden
Naturstudien, Kompositionsentwürfe, Portraitaufnahmen, sowie Visierungen, also
genau anweisende Vorlagen, etwa für Glasmalerei.
Anzunehmen ist, daß Lucas in seiner Jugend eifrig nach der Natur gezeichnet
hat, Landschaftliches und Figürliches. Der Fortschritt, der in den Stichen zu Tage
tritt, wäre ohne vorbereitende Übung schwer zu erklären. Wenn Naturstudien,
namentlich aus der Jugendzeit, fast völlig verloren gegangen sind, so ist die Ursache
davon leicht zu erkennen. Äußerungen eines Meisters, der sich Ansehen erworben
hatte, wurden in Ehren gehalten, Kompositionsideen wanderten als hilfreiche
Werte von einer Werkstatt in die andere.
Indem ich die Zeichnungen, die ich als eigenhändige Arbeiten anerkenne, in
der Folge der Entstehung aufzähle, ziehe ich Nutzen aus der meisterhaften Katalo-
gisierung, die Popham40 den relativ vielen im British Museum bewahrten Blättern
gewidmet hat.
I. Kopf eines aufwärts blickenden Burschen — Silberstift (190 X 151) — Berlin, 59
Kupferstichkabinett Nr. 4321.
Der kropfartig geschwollene Hals, die gewaltsame Verkürzung, der mürrische
Ausdruck lassen diese Zeichnung erkennen als eine um 1508 entstandene Natur-
aufnahme, die einzige aus so früher Zeit, die mir bekannt ist.
2. Jasons Genossen, als Frauen verkleidet, das Gefängnis verlassend — London, 60
British Museum, Popham Nr. 1, Feder, schwarze und braune Tinte, (282 X 202).
Das entlegene Motiv aus Boccaccios „De claris mulieribus" cap. XXIX, novel-
listisch, abenteuerlich. Nach Pophams Beobachtung liegt der Komposition ein Holz-
schnitt in Johann Zainers Ulmer Ausgabe des Boccaccio (1473) zu Grunde. Sorg-
fältige Vorarbeit für einen Kupferstich (?). Zu vergleichen der Kupferstich mit dem
hl. Georg. Pophams Datierung — 1508 oder 1509 — unbestreitbar.
40 Popham, Catalogue of drawings by Dutch and Flemish artists . . . vol. V (1932) S. 26ff.
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Wir glauben, etwa 35 Zeichnungen von des Meisters Hand zu besitzen, und
schmeicheln uns mit der Hoffnung, aus ihnen, wie aus einem Tagebuche, Persön-
liches und Intimes zu erfahren. Nun sind uns aus dem „Tagebuche" nur wenige
Seiten erhalten. Immerhin, wenn wir mit Vorsicht die Zeugen befragen, mag es
gelingen, etwas über die Arbeitsweise des Meisters festzustellen und die bei Betrach-
tung der Stiche und der Gemälde gewonnene Einsicht zu ergänzen.
Die Zeichnungen sind verschieden voneinander, in Anbetracht der technischen
Mittel — Feder, Metallstift, Kreide —, ferner weil sie keineswegs gleichzeitig ent-
standen sind, endlich, was jeweils die Absicht des Zeichners betrifft. Wir finden
Naturstudien, Kompositionsentwürfe, Portraitaufnahmen, sowie Visierungen, also
genau anweisende Vorlagen, etwa für Glasmalerei.
Anzunehmen ist, daß Lucas in seiner Jugend eifrig nach der Natur gezeichnet
hat, Landschaftliches und Figürliches. Der Fortschritt, der in den Stichen zu Tage
tritt, wäre ohne vorbereitende Übung schwer zu erklären. Wenn Naturstudien,
namentlich aus der Jugendzeit, fast völlig verloren gegangen sind, so ist die Ursache
davon leicht zu erkennen. Äußerungen eines Meisters, der sich Ansehen erworben
hatte, wurden in Ehren gehalten, Kompositionsideen wanderten als hilfreiche
Werte von einer Werkstatt in die andere.
Indem ich die Zeichnungen, die ich als eigenhändige Arbeiten anerkenne, in
der Folge der Entstehung aufzähle, ziehe ich Nutzen aus der meisterhaften Katalo-
gisierung, die Popham40 den relativ vielen im British Museum bewahrten Blättern
gewidmet hat.
I. Kopf eines aufwärts blickenden Burschen — Silberstift (190 X 151) — Berlin, 59
Kupferstichkabinett Nr. 4321.
Der kropfartig geschwollene Hals, die gewaltsame Verkürzung, der mürrische
Ausdruck lassen diese Zeichnung erkennen als eine um 1508 entstandene Natur-
aufnahme, die einzige aus so früher Zeit, die mir bekannt ist.
2. Jasons Genossen, als Frauen verkleidet, das Gefängnis verlassend — London, 60
British Museum, Popham Nr. 1, Feder, schwarze und braune Tinte, (282 X 202).
Das entlegene Motiv aus Boccaccios „De claris mulieribus" cap. XXIX, novel-
listisch, abenteuerlich. Nach Pophams Beobachtung liegt der Komposition ein Holz-
schnitt in Johann Zainers Ulmer Ausgabe des Boccaccio (1473) zu Grunde. Sorg-
fältige Vorarbeit für einen Kupferstich (?). Zu vergleichen der Kupferstich mit dem
hl. Georg. Pophams Datierung — 1508 oder 1509 — unbestreitbar.
40 Popham, Catalogue of drawings by Dutch and Flemish artists . . . vol. V (1932) S. 26ff.
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