Ich habe sagen hören, die Kraft der Holländer läge in ihrer Ruhe. Wenn sich
dieser Seelenzustand nicht überall nachweisen läßt: wo und wann sich die Kunst
Hollands aus Eigenem überlegen zeigt, herrscht Ruhe — von dieser oder jener Art,
sei es Gelassenheit, Beharrlichkeit, Behagen in friedlicher Enge oder feierliche Re-
gungslosigkeit. Die Flucht zum Stilleben bedeutet Abkehr von der Unrast des
menschlichen Treibens. Kein Holländer hätte den Terminus „nature morte" ge-
bildet und das stille Leben mit dem Tode verwechselt. Schopenhauer rühmt den
Holländern — er sagt Niederländern — nach, daß sie sich im Stilleben ein dauern-
des Denkmal ihrer Objektivität und Geistesruhe gesetzt haben. Geistesruhe ist eine
Voraussetzung für die ausdauernde Geduld, die sich in der Feinmalerei be-
währt.
Heftige Bewegung wird in Holland häufig als eine willentlich angestrebte, aus
dem Westen oder dem Süden eingedrungene Tendenz enthüllt. Frans Hals und
Adriaen Brouwer stammen aus dem Süden der Niederlande. Rembrandt ringt eine
Zeitlang nach körperlicher Aktion, überwindet aber diese Bestrebung wie eine
Krankheit. Riegl — in dem Aufsatz über die Gildenstücke — bemerkt, die Hollän-
der haben alle äußere Handlung unterdrückt oder wenigstens die physischen Be-
wegungen zurückgedrängt durch gewisse psychische Begleiterscheinungen der
Handlung. Im 15. Jahrhundert hat niemand seelisches Leben bei körperlicher
Bewegungslosigkeit so eindringlich geschildert wie Geertgen tot St. Jans, der Haar-
lemer, in dem Bilde des Täufers, das sich in der Berliner Galerie befindet. Johannes
sitzt, schweren Gedanken hingegeben, regungslos, einsam, in heiterem Gefilde. Und
Dierick Bouts, der aus Haarlem stammt, Gerard David, der aus der Gegend von
Gouda kommt: sobald sie sich um dramatische Aktion bemühen, suchen sie Hülfe,
namentlich bei Roger van der Weyden. Rembrandts reifstes und letztes Wort, ist es
nicht wiederum seelisches Leben bei körperlicher Bewegungslosigkeit? In der
Periode, in der Lucas lebte, war das Streben allgemein auf laute Instrumentation,
auf muskelstarke Tat gerichtet. Die Holländer vermochten sich den Anforderungen
des Zeitgeschmacks nicht zu entziehen. Um auf der Höhe zu bleiben, reckten sie
sich und spreizten sich, schritten sie auf ellenhohen Socken. Ihre Gestikulation
wirkt forciert, ihr Pathos klingt hohl, die dramatische Energie artet in Tumult
aus. Um 1540 ist der führende Meister in Antwerpen Pieter Goeck, in Haarlem
Martin van Heemskerck. Der Vlame findet im Schwung und Flusse bewegter
Massen dekorativ glückliche Lösungen, während der Holländer zur Karikatur des
Michelangelo-Stils gelangt. An ursprünglicher Begabung war der Meister von Alost
dem Holländer keineswegs überlegen, er war nur fähiger, sich das Südliche zu
assimilieren.
Lucas gehört derselben Generation an, wie Jan van Scorel und van Heems-
kerck, nur daß seine Wirksamkeit früher einsetzt und früher endet als die jener
Landsleute. Nicht wie sie hat er im Süden geweilt und hat die zeitgemäße Lehre
nur aus zweiter Hand empfangen. Fester gebunden an die Heimat, aber hellhörig
und wandlungsbereit in hohem Grad, hat er — vielmehr seine Kunst — besonders
schwer gelitten unter dem Widerstreite zwischen der natürlichen Anlage und den
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dieser Seelenzustand nicht überall nachweisen läßt: wo und wann sich die Kunst
Hollands aus Eigenem überlegen zeigt, herrscht Ruhe — von dieser oder jener Art,
sei es Gelassenheit, Beharrlichkeit, Behagen in friedlicher Enge oder feierliche Re-
gungslosigkeit. Die Flucht zum Stilleben bedeutet Abkehr von der Unrast des
menschlichen Treibens. Kein Holländer hätte den Terminus „nature morte" ge-
bildet und das stille Leben mit dem Tode verwechselt. Schopenhauer rühmt den
Holländern — er sagt Niederländern — nach, daß sie sich im Stilleben ein dauern-
des Denkmal ihrer Objektivität und Geistesruhe gesetzt haben. Geistesruhe ist eine
Voraussetzung für die ausdauernde Geduld, die sich in der Feinmalerei be-
währt.
Heftige Bewegung wird in Holland häufig als eine willentlich angestrebte, aus
dem Westen oder dem Süden eingedrungene Tendenz enthüllt. Frans Hals und
Adriaen Brouwer stammen aus dem Süden der Niederlande. Rembrandt ringt eine
Zeitlang nach körperlicher Aktion, überwindet aber diese Bestrebung wie eine
Krankheit. Riegl — in dem Aufsatz über die Gildenstücke — bemerkt, die Hollän-
der haben alle äußere Handlung unterdrückt oder wenigstens die physischen Be-
wegungen zurückgedrängt durch gewisse psychische Begleiterscheinungen der
Handlung. Im 15. Jahrhundert hat niemand seelisches Leben bei körperlicher
Bewegungslosigkeit so eindringlich geschildert wie Geertgen tot St. Jans, der Haar-
lemer, in dem Bilde des Täufers, das sich in der Berliner Galerie befindet. Johannes
sitzt, schweren Gedanken hingegeben, regungslos, einsam, in heiterem Gefilde. Und
Dierick Bouts, der aus Haarlem stammt, Gerard David, der aus der Gegend von
Gouda kommt: sobald sie sich um dramatische Aktion bemühen, suchen sie Hülfe,
namentlich bei Roger van der Weyden. Rembrandts reifstes und letztes Wort, ist es
nicht wiederum seelisches Leben bei körperlicher Bewegungslosigkeit? In der
Periode, in der Lucas lebte, war das Streben allgemein auf laute Instrumentation,
auf muskelstarke Tat gerichtet. Die Holländer vermochten sich den Anforderungen
des Zeitgeschmacks nicht zu entziehen. Um auf der Höhe zu bleiben, reckten sie
sich und spreizten sich, schritten sie auf ellenhohen Socken. Ihre Gestikulation
wirkt forciert, ihr Pathos klingt hohl, die dramatische Energie artet in Tumult
aus. Um 1540 ist der führende Meister in Antwerpen Pieter Goeck, in Haarlem
Martin van Heemskerck. Der Vlame findet im Schwung und Flusse bewegter
Massen dekorativ glückliche Lösungen, während der Holländer zur Karikatur des
Michelangelo-Stils gelangt. An ursprünglicher Begabung war der Meister von Alost
dem Holländer keineswegs überlegen, er war nur fähiger, sich das Südliche zu
assimilieren.
Lucas gehört derselben Generation an, wie Jan van Scorel und van Heems-
kerck, nur daß seine Wirksamkeit früher einsetzt und früher endet als die jener
Landsleute. Nicht wie sie hat er im Süden geweilt und hat die zeitgemäße Lehre
nur aus zweiter Hand empfangen. Fester gebunden an die Heimat, aber hellhörig
und wandlungsbereit in hohem Grad, hat er — vielmehr seine Kunst — besonders
schwer gelitten unter dem Widerstreite zwischen der natürlichen Anlage und den
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