CEZANNE
Entdeckung der latenten Mathematik in der Natur, auf die er die
Konsistenz der farbigen Massen zurückführt. So wurde er Kubist,
wie Bach in seinen Fugen, Kant, der Flaubert des heiligen Julian,
und noch ein paar andere Gestalter Kubisten waren: Menschen,
denen gelingt, ihr Menschentum in kristallenen Würfeln nieder-
zuschlagen. Er lernte von kleinen Leuten, wie Pissarro, und die
brachten ihn, ohne es zu ahnen, zu Poussin, und als er nur noch
reine Sachlichkeit malte, beschloß er ein Huldigungsbild für Dela-
croix. Es kam nicht zustande, wohl weil es ihm banal und zu-
dringlich schien. Dafür kopierte er die Medea. Als vor Jahren
eine Variante dieses Delacroix den engen Saal oben im Louvre —
man kann noch an solche Orte denken — zum Tempel erhob,
war Cezanne dem Pantheon noch fern, aber jeder, der die eines
Phidias würdige Gebärde der Medea durchschaute, ahnte die
Nähe des Jüngers. Solche Gebärden leben in den Stilleben Ge-
zannes, in seinen Landschaften, in seinen Bildnissen, die man
nicht ohne Recht „geistlos“ genannt hat. Der Techniker könnte
über die Unterschiede der Medea Delacroix’ und der Medea
Cezannes Bücher schreiben. Im wesentlichen sind beide genau
gleich. Mit gekürzten Intervallen, mit einer systematischen Um-
formung des Rhythmus wird der Orchesterklang des Gemäldes
auf das Papier übertragen. Die dünne Wasserfarbe trägt keine
schwerere Last als das Gemälde, die Gebärde wird um nichts
verdünnt. Eine Transposition, wie sie Liszt mit der Orgel Bachs
auf das Klavier vornahm, mit dem nicht geringen Unterschied,
daß Cezanne sich vollkommen unterordnete und gleichsam sein
Instrument Delacroix reichte, dem es Spaß machte, darauf die
Medea zu spielen. Man muß sehr stolz sein und seiner Eigen-
heit sicher, um sie so neidlos hingeben zu können.
Seine eigenen Aquarelle hat Cezanne noch leichter gemacht.
Sie sind sehr selten vollständig, oft nur ein Schema für die Ver-
‘S7
Entdeckung der latenten Mathematik in der Natur, auf die er die
Konsistenz der farbigen Massen zurückführt. So wurde er Kubist,
wie Bach in seinen Fugen, Kant, der Flaubert des heiligen Julian,
und noch ein paar andere Gestalter Kubisten waren: Menschen,
denen gelingt, ihr Menschentum in kristallenen Würfeln nieder-
zuschlagen. Er lernte von kleinen Leuten, wie Pissarro, und die
brachten ihn, ohne es zu ahnen, zu Poussin, und als er nur noch
reine Sachlichkeit malte, beschloß er ein Huldigungsbild für Dela-
croix. Es kam nicht zustande, wohl weil es ihm banal und zu-
dringlich schien. Dafür kopierte er die Medea. Als vor Jahren
eine Variante dieses Delacroix den engen Saal oben im Louvre —
man kann noch an solche Orte denken — zum Tempel erhob,
war Cezanne dem Pantheon noch fern, aber jeder, der die eines
Phidias würdige Gebärde der Medea durchschaute, ahnte die
Nähe des Jüngers. Solche Gebärden leben in den Stilleben Ge-
zannes, in seinen Landschaften, in seinen Bildnissen, die man
nicht ohne Recht „geistlos“ genannt hat. Der Techniker könnte
über die Unterschiede der Medea Delacroix’ und der Medea
Cezannes Bücher schreiben. Im wesentlichen sind beide genau
gleich. Mit gekürzten Intervallen, mit einer systematischen Um-
formung des Rhythmus wird der Orchesterklang des Gemäldes
auf das Papier übertragen. Die dünne Wasserfarbe trägt keine
schwerere Last als das Gemälde, die Gebärde wird um nichts
verdünnt. Eine Transposition, wie sie Liszt mit der Orgel Bachs
auf das Klavier vornahm, mit dem nicht geringen Unterschied,
daß Cezanne sich vollkommen unterordnete und gleichsam sein
Instrument Delacroix reichte, dem es Spaß machte, darauf die
Medea zu spielen. Man muß sehr stolz sein und seiner Eigen-
heit sicher, um sie so neidlos hingeben zu können.
Seine eigenen Aquarelle hat Cezanne noch leichter gemacht.
Sie sind sehr selten vollständig, oft nur ein Schema für die Ver-
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