^88
WILHELM HAUSENSTEIN
unseren irdischen Herzen solange unerfindlich bleiben wird, als wir nicht selbst ins gleiche
Fegefeuer folgen, wie am andern Tage die alte Mutter tat.
Im Anfang des Jahres 1922 nahm ihn, der entsetzt begriff und in unsäglicher Traurigkeit
still wurde, der Tod.
(Im Verlage R. Piper & Co., München, erscheint gleichzeitig mit diesem „Ganymed“-Band ein Gedenkbuch:
Rene Beeh, Zeichnungen, Bilder, Briefe; mit Einleitungen von Hans Haug und Wilhelm Hausenstein.)
GESPRÄCH ÜBER PABLO PICASSO
VON
WILHELM HAUSENSTEIN
(Zueignung an Max Beckmann)
(Personen: ein Maler, ein Zuschauer; Ort: das Variete des Deutschen Theaters, der Stachus, der Maximilians-
platz, Tabarin Luitpold in München; Zeit: zwischen 8 und 12 abends.)
A/I aler: Haben Sie die Picasso-Ausstellung gesehen? Sie gefällt mir nicht.
1V1 Zuschauer: Das tut mir leid. Ich habe einen wesentlichen Eindruck davon. Aber
freilich wäre ich in Verlegenheit, wenn ich ihn kurzhin genauer definieren sollte. Übrigens
kann Ihnen Picasso nicht gefallen, denn Ihre Art schließt ihn, seine die Ihre aus.
Maler: Wie meinen Sie es?
Zuschauer: Nun — etwa so: Ihre Bilder und Blätter sind Zug um Zug Bealisation des
Wirklichen. Vielmehr: Sie malen Sachen. Schreckliche Sachen: Karneval, Selbstmörder,
Lazarette und so weiter — einmal wohl auch ein neutrales Antlitz, das aber, ist es neutral,
eben darum nur um so furchtbarer aussieht. In jedem Fall fixieren Sie sichtbare, greifbare,
unzerstückte Situation, und die Bestimmung des Gegenständlichen, die Ihnen gelingt, ich
sage noch lieber: Ihr Aufriß der Objekte ist von eindeutiger Anschaulichkeit. Dazu: Ihre
Figuren sind sozusagen ganz; sie sind nicht zerschnitten; sie sind nicht auseinandergefallen:
eher sind sie schauderhaft konsolidiert. Picasso ist das Gegenteil: sein Bild kennt nicht
den Körper,—ja nicht einmal das physikalische Aggregat: sein Bild ist Bild der Disgregation.
Das Stichwort: Entfugung. Mir lallt der Magnetberg ein: alle Nägel gehen aus dem
Holz — die Planken fallen durcheinander. Ich stelle mir den Augenblick vor, halte ihn
auf. Die Vision wäre etwa Picasso. Mir fällt die Geschichte des Edgar Allan Poe von jenem
Toten ein, der durch Wochen hin in der Form blieb und in dem Augenblick zerbröckelte,
WILHELM HAUSENSTEIN
unseren irdischen Herzen solange unerfindlich bleiben wird, als wir nicht selbst ins gleiche
Fegefeuer folgen, wie am andern Tage die alte Mutter tat.
Im Anfang des Jahres 1922 nahm ihn, der entsetzt begriff und in unsäglicher Traurigkeit
still wurde, der Tod.
(Im Verlage R. Piper & Co., München, erscheint gleichzeitig mit diesem „Ganymed“-Band ein Gedenkbuch:
Rene Beeh, Zeichnungen, Bilder, Briefe; mit Einleitungen von Hans Haug und Wilhelm Hausenstein.)
GESPRÄCH ÜBER PABLO PICASSO
VON
WILHELM HAUSENSTEIN
(Zueignung an Max Beckmann)
(Personen: ein Maler, ein Zuschauer; Ort: das Variete des Deutschen Theaters, der Stachus, der Maximilians-
platz, Tabarin Luitpold in München; Zeit: zwischen 8 und 12 abends.)
A/I aler: Haben Sie die Picasso-Ausstellung gesehen? Sie gefällt mir nicht.
1V1 Zuschauer: Das tut mir leid. Ich habe einen wesentlichen Eindruck davon. Aber
freilich wäre ich in Verlegenheit, wenn ich ihn kurzhin genauer definieren sollte. Übrigens
kann Ihnen Picasso nicht gefallen, denn Ihre Art schließt ihn, seine die Ihre aus.
Maler: Wie meinen Sie es?
Zuschauer: Nun — etwa so: Ihre Bilder und Blätter sind Zug um Zug Bealisation des
Wirklichen. Vielmehr: Sie malen Sachen. Schreckliche Sachen: Karneval, Selbstmörder,
Lazarette und so weiter — einmal wohl auch ein neutrales Antlitz, das aber, ist es neutral,
eben darum nur um so furchtbarer aussieht. In jedem Fall fixieren Sie sichtbare, greifbare,
unzerstückte Situation, und die Bestimmung des Gegenständlichen, die Ihnen gelingt, ich
sage noch lieber: Ihr Aufriß der Objekte ist von eindeutiger Anschaulichkeit. Dazu: Ihre
Figuren sind sozusagen ganz; sie sind nicht zerschnitten; sie sind nicht auseinandergefallen:
eher sind sie schauderhaft konsolidiert. Picasso ist das Gegenteil: sein Bild kennt nicht
den Körper,—ja nicht einmal das physikalische Aggregat: sein Bild ist Bild der Disgregation.
Das Stichwort: Entfugung. Mir lallt der Magnetberg ein: alle Nägel gehen aus dem
Holz — die Planken fallen durcheinander. Ich stelle mir den Augenblick vor, halte ihn
auf. Die Vision wäre etwa Picasso. Mir fällt die Geschichte des Edgar Allan Poe von jenem
Toten ein, der durch Wochen hin in der Form blieb und in dem Augenblick zerbröckelte,