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Die Gartenkunst — 42.1929

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Sonderheft Bremen
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XLI. Jahresversammlung der Deutschen Gesellschaft für Gartenkunst: Bremen, 31. August - 6. September 1928
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Engelhardt, Wolfgang von: Physiognomik in der Gartenkunst
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https://doi.org/10.11588/diglit.59006#0223

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Führer tätigkeit erntete er reichllen Dank aller Beteiligten.
Nach Heide- und Moorlandschaft, nach der Fahrt durch
die Oldenburger Marschen fehlte als letzter großer Ein-
druck das Meer. Und auch dieses bekamen die Teilneh-
mer zu sehen auf einer Fahrt nach Helgoland, die den
Abschluß der Tagung am 6. September bildete: Die grüne

Insel empfing die Galle bei lachendem Sonnenschein und
spiegelglatter See und entließ sie wieder bei Sturm und
tosendem Meer. Vielseitig und erlebnisreich wie die ganze
Veranstaltung schloß auch dieser letzte Tag und ließ in
allen frohe Erinnerung und tiefe Liebe zu norddeutschen
Menschen und norddeutscher Heimat zurück.

Physiognomik in der Gartenkunlt *)

Von Baron W. v. Engelhardt, Düsseldorf
Direktor des städt. Gartenamts und Dozent an der Staatlichen Kunstakademie

Allem zuvor ill es zu gegenseitigem Verliehen nötig, lieh
die Grundbedeutung des Wortes „Physiognomik” klar
zu machen. Es bedeutet das griechische Wort „physis”
dasselbe, wie das lateinische Wort „natura”, d. h. Gebo-
renwerden, Herkunft, Abdämmung, Ursprung; ”gnome”
bedeutet Erkenntnis. Also Ursprungs- oder Herkunfts-
erkenntnis heißt Physiognomik, die aus dem Gesichts-
ausdruck gewonnen wird. Daher ill im Sprachgebrauch
das Wort „Physiognomie” gleichbedeutend mit Gesichts-
ausdruck. Die Physiognomik trachtet danach, von der
äußeren Erscheinung eines Gegenllandes, etwa einer
Pflanze, eines Kunllwerks auf die Art des Geworden-
seins aus innerem Drang und äußeren fördernden und
hemmenden Umlländen zu schließen und so Ursprung
und Wesensart zu ergründen.
Ralse, Berufstätigkeit, Sinnesart, Temperament eines Men-
schen lesen wir aus seinen Gesichtszügen, seinem Gebah-
ren, seiner Haltung. Der Kunstkenner vermag Bauten
und Bilder, Skulptur und Keramik zu „lesen”, d. h. ihren
Sinn, ihre Herkunft, ihre Echtheit aus der Physiognomie
herauszufühlen. — Der Pflanzenphysiognomiker wird die
Pssanze, der Graphologe die Handschrift auf Ursprung
prüfen und dadurch ihre Wesensart bellimmen können.
So werden wir in unserer gelamten Umwelt physiogno-
mische Studien treiben können — und wir tun es auch
unbewußt mit Treffsicherheit oder Irrtum, je nachdem,
wieweit wir es in diesem „intuitiven” Schriftgelehrtentum
gebracht haben. Ich sage „intuitiv”, d. h. hineinsehauend,
das Ganze als Einheit erfassend — denn intellektuelle
Analyse führt hier nicht zum Ziel.
Lallen wir die Physiognomik in der Gartenkunlt Wert-
meller sein, so prüfen wir ihre Gebilde daraufhin, ob
sie unter dem Zeichen einer Einheitsdominante entslan-
den sind, d. h. ob das Gebilde dem Sinn seines Zweckes
entipricht, ob die jeweiligen fördernden und hemmenden
äußeren Umstände im Gewordensein mitbellimmend ge-
wesen sind — kürzer ausgedrückt, ob das geschaffene
Gebilde organische Ganzheit, ob seine Einzelheiten dazu-
gehörig und daher selbllverlländlich sind, so daß man
Goethes Worte auf solch „geprägte Form” anwenden
kann: „So mußt du sein, dir kannll du nicht entssiehen.”
Daß ein solcher Maßltab der Physiognomik zu eng, zu
einseitig, zu akademisch die Gebilde der Gartenkunlt be-
messen würde, ill nicht zu befürchten; denn er ill an-
wendbar auf die abertausend mannigfaltigen Schöpfungen
der Natur, der größten Künlllerin, die überall, wo sie
von Menschen ungestört schafft, — aus inneren und äuße-
ren Notwendigkeiten Formen gebiert, die Stil und Cha-

rakter haben. Wir brauchen nur der blütenreichen Alpen-
matten des Hochgebirges zu gedenken, uns der heimi-
schen Hochmoorlandschaft oder Heide zu erinnern, uns
den tropischen Urwald oder das Bild der sibirischen
Tundra ins Gedächtnis zu rufen — überall wird, sei es
im einzelnen Tier- oder Pssanzenindividuum, sei es in
deren landschaftlicher Verbindung die Physiognomie or-
ganischer Ganzheit, jener Prägung aus schöpferischer Lebens-
kraft und Zwang der Umweltsverhältnisie in ihrer geheim-
nisvollen Selbllverlländlichkeit trotz dauernd lebendigen
Wechsels gewahrt.
Wirkt nicht ein vollendetes Kunllwerk in gleicher Weise
auf uns ein? — III nicht jene geheimnisvolle Selbllver-
lländlichkeit, die wir aus seiner Physiognomie herausfüh-
len, ein Wertmelser und ein Zeugnis für zielsicheres Ge-
wachsensein aus Drang und Zwang zur Einheit? — Und
wie dem hellsichtigen Auge ein Fremdkörper im Natur-
bild — etwa eine Magnolie im heimischen Mischwald,
eine Araucarie im wilden Kiefernwald, sofort als nicht
hingehörig — weil fremden Ursprungs — auffällt, so
auch in analoger Weise bei den Gebilden aus Menschen-
hand.
Denken wir an die unübersehbare Menge der Zwecke,
denen die Gebilde aus Menschenhand dienen und ver-
suchen wir sie in ihrer Wesensart zu unterscheiden und
zu ordnen, so gelangen wir zwangsläufig zu der Vorllel-
lung einer Zweckllufenleiter. Alles was unserem ma-
teriell-leiblichen Dasein, also ausschließlich als Nutzzweck-
gebilde Dienlle leillet, gehört in die niederen Rangstufen,
und was unserem geistig-seelilchen Aufllieg dient, in die
höheren Stufen jener Leiter. Diese Stasfelung von den
niederen Zweckllufen der Zivilisation zu den höheren
der Kultur wird um io mehr unterschiedliche Grade
haben, je seiner das Unterscheidungsvermögen ausgebildet
ill. Um an einem Beispiel die Unterschiede der Zweck-
slufen deutlicher zu machen, denken wir an die Gliede-
rung eines reich ausgestatteten Wohnhauses. Die Räume,
welche ausschließlich materiell-körperliche Daseinsbedin-
gungen erfüllen, wie Küche und Keller, die Speisekam-
mer, die Anrichte, das Bad, die Toiletten, Heizraum und
Speicher sollen als reine Nutzzweckgebilde nach prak-
tischen und gesundheitlichen Gesichtspunkten eingerichtet
und technisch einwandfrei ausgestattet werden. Diese
Gebilde werden in ihrer Physiognomie lediglich die We-
sensart beller Gebrauchsfähigkeit widerzuspiegeln haben.
*) Der Vortrag konnte nicht wörtlich abgedruckt werden, weil der
Redner frei gesprochen hat. Die nachstehenden Ausführungen geben
aber inhaltlich den wesentlichen Gedankengang des Vortrags wieder.
 
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