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Gaulke, Johannes
Religion und Kunst — Führer zur Kunst, Band 9: Esslingen: Paul Neff Verlag (Max Schreiber), 1907

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https://doi.org/10.11588/diglit.67354#0060
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Religion und. Kunst

um einem sogenannten Bedürfnis abzuhelfen — erbaut werden,
tragen alle das Gepräge eines kläglichen Epigonentums. Das
Christentum hat in religiöser wie in künstlerischer Beziehung
seine Mission erfüllt. Die sogenannten positiven Wahrheiten,
die Erkenntnisse a priori, auf denen die christliche Religion
beruht, waren bereits durch die Entdeckungen der Kepler,
Galilei, Kopernikus stark in Frage gestellt worden. Der Glaube
an einen persönlichen, das Schicksal des Weltganzen wie des
Einzelindividuums leitenden Gottes, war damit erschüttert, aber
noch nicht widerlegt worden. Es mußten stärkere Beweismittel
von der wissenschaftlichen Forschung erbracht werden, um
solches zu bewirken. Und sie wurden erbracht.
Der Himmelsforschung, die am Ausgang des Mittelalters
so glänzende Resultate aufzuweisen hatte, gebührt das Verdienst,
die Erde aus ihrer dominierenden Stellung als Mittelpunkt der
Welt gerückt zu haben. Die Erde ein Stern unter Sternen, und
nicht einmal der bedeutendste, sondern im Gegenteil ein recht
bescheidener im Weltall! Eine anfänglich deprimierende Er-
kenntnis, die für die Kulturentwickelung von einschneidender Be-
deutung sein mußte. Aber die Forschung ruhte nicht, mit den
positiven Erkenntnissen, auf denen jedes Religionssystem beruht,
aufzuräumen. Mit der Gleichstellung der Erde als Stern unter
Sternen konnte sich die Kirche allenfalls noch abfinden. Denn
hierzu war schließlich nur eine symbolische Umdeutung der
geoffenbarten Bibelwahrheiten nötig. Erheblich schwieriger ge-
staltete sich aber die Lage der Kirche, als die Rangordnung
der Lebewesen eine ungeahnte Verschiebung erfuhr, als der
Mensch von seiner erträumten Höhe, als die Krone der Schöpfung
gestürzt wurde, und an Stelle dessen nur noch das höchste
Stadium einer langen Entwickelungsreihe tierischer Organismen
für sich beanspruchen konnte. Mag auch die neue Entdeckung
uns der Erkenntnis des letzten Grundes aller Dinge nicht näher
führen, so ist doch dem naiven Kinderglauben wiederum ein
gutes Stück an Boden entzogen.
Wir wissen nicht, welche Umwälzungen die neuen wissen-
schaftlichen Erkenntnisse im Geistesleben noch hervorrufen
werden, aber wir können uns nicht mehr länger der Tatsache
verschließen, daß die Kirche, oder richtiger: die verschiedenen
christlichen Kirchen dem Auflösungsprozeß verfallen sind und
das Christentum schon lange seinen fascinierenden Reiz auf die
Massen eingebüßt hat. Die Christengötter sind, wie einst die
Götter Griechenlands, ihres Amtes enthoben. Werden an ihre
Stelle neue Götter treten? Werden sich neue Anthropomor-
 
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