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Genius: Zeitschrift für werdende und alte Kunst — 1.1919

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Erstes Buch
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Die Bildenden Kuenste
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Müller-Wulckow, Walter: Das Gesamtbild der neuen Architektur
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https://doi.org/10.11588/diglit.61254#0120
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98 MÜLLER-WULCKOW / DAS GESAMTBILD DER NEUEN ARCHITEKTUR

national Bedingte und das zeitlich Gemeinsame
wohl gegeneinander abgewogen dem Spiegel
der Architektur anzuvertrauen, der ausgeprägte
Bildungen für Jahrhunderte unverwischt erhält.
Die Entwicklungsroute der neuen Architektur
führt jedoch nicht über die Etappen der offiziellen
Baukunst. Die großen Bauaufgaben und Anlässe
zu monumentaler Gestaltung wurden ohne Sinn
für das Verkörperungsbedürfnis der Zeit ver-
geben. Eine pro patria-Historie will zwar im
Reichstagsgebäude selbst die Wandlung und den
Wendepunkt zum Modernen sehen. Aber das
völlige Verkennen dieser eminent zeitgemäßen
Aufgabe durch die äußerlich repräsentative Lösung
gab erst eigentlich den Anstoß zur Sezession
schaffensdurstiger Künstler. Vor der Jahrhundert-
wende begann auch im Osten ein neues Tagen
in nicht minder radikaler Reaktion gegen den
Ringstraßenpomp. Während Rieth in Berlin mit
tollen Kapriolen über die reichsoffizielle Bauweise
sich emporzuschwingen suchte, protestierte in
Wien Otto Wagner mit scharfem Verstand und
feurigem Temperament gegen den hergebrachten
Schlendrian. Von dort kam Olbrich als Sendbote
neuer Ideen nach Darmstadt. Ihm dankt die
Kolonie auf der Mathildenhöhe die alle Lebens-
äußerungen umfassende Feinfühligkeit. Vorüber-
gehend, weil ohne Verwurzelung, fanden sich
dort einige Neuerer zusammen, mit dem Willen
zur Weggemeinschaft. Olbrichs Stärke kehrt sich
organisatorisch nach innen. Der Hochzeitsturm
am Ausstellungsgebäude wirkt wie ein Memento
dessen, was dort angestrebt wurde. Zu jäh kam
sein Ende, zu rasch bei ihm aber auch das Ob-
siegen des kubisch Beruhigten und die geschmack-
volle Wiener Indifferenz von der Art Josef Hoff-
manns. Auch Behrens macht in seinem Darm-
städter Haus nur einen Versuch mit dem gotisch-
dynamischen Prinzip, das er seitdem von Grund
aus abgeschworen, wie einst Goethe den Straß-
burger Dithyrambus.
Trotz der gerade ihm entgegengestellten Wider-
stände bleibt van de Velde der erfolgreichste
von den eigenwilligen Formbildnern jener ersten
Generation, obwohl in Weimar, jener anderen
klassischen Residenz, endlich auch er dem Miß-

verstehen seiner Kulturidee erlegen ist. Schließ-
lich hätten sich dort zu ihrer Verwurzelung doch
neue Inhalte vorfinden müssen, wie sie ihm un-
verhofft in Hagen durch Osthaus, jenen Kunst-
sammler nach Qualitätsprinzip, dargeboten wurden.
Den Hohenhof in seiner beherrschenden Lage
den von Behrens und Lauweriks gebauten Häusern
der Kolonie Eppenhausen gegenüberstellen, heißt
den Individualisten und die Typiker in ihrer
Schaffensart als sich Unterscheidende und zugleich
Ergänzende kennzeichnen.
Dennoch setzt van de Velde selbst Messelsche
Anfänge fort. Das mag befremdend klingen und
ist doch durch Beispiele zu erhärten: das Land-
haus Springer in Wannsee ist wie eine härtere
Vorstufe des Niederländers. Selbstverständlich
dankt auch Endell Vielfältiges dem entscheidenden
Umschwung in der Bauweise der Berliner Waren-
häuser. Das Feingliedrige, Gotische dort hat er
dank den aus München mitgebrachten Anregungen
Obrists am nächsten gefühlt und eine etwas scharf
gespannte, dünne Musik in hoben Tonlagen
daraus entwickelt. Man muß das steile Auf-
springen der Giebel seiner Landhäuser in West-
end bei Berlin den Dachgliederungen van de
Veldes gegenüberstellen und dazwischen das
Durchschnittliche und Ausgeglichene, den Ver-
zicht auf Eigenwilligkeit bei Muthesius. Klassisch
in der Nuancierung von Giebel und Dachschräge
wird erst Tessenow. Sämtlich Norddeutsche,
denen dieser Faktor eher als den in gefälligem
Brauch verharrenden Süddeutschen, wie Fischer,
Eberhardt und selbst Riemerschmid, bewußt ge-
stimmtes Instrument des Ausdrucks ist.
Bei Tessenow, diesem Meister der Maß Verhält-
nisse, gleichen sich niemals die Neigungswinkel
der Dachschrägen. Und doch gleitet das nach-
tastende Empfinden über alle in der gleichen
Weise hin. Unverkennbar sind jeweils seine
Dachbildungen. Das muß an seiner immanenten
Gesetzmäßigkeit hegen, in die für jeden Fall die
bezeichnenden Rechnungsfaktoren eingestellt sind.
Und gerade weil er begriffen hat, daß Proportio-
nieren der Architektur kein arithmetisches Ver-
messen von Höhe und Breite ist, sondern ein
geometrisches Inbeziehungsetzen zu irrationalen
 
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