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Genius: Zeitschrift für werdende und alte Kunst — 1.1919

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Zweites Buch
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Dichtung und Menschheit
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Sinsheimer, Hermann: Hamlet und sein Widerspiel: Vom Wesen und Wert der Bühne
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https://doi.org/10.11588/diglit.61254#0335

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HERMANN SINSHEIMER /HAMLET UND SEIN WIDERSPIEL
- VOM WESEN UND WERT DER BÜHNE -

I
„Der den König spielt, soll willkommen sein,
seine Majestät soll Tribut von mir empfangen.“
(Hamlet.)
Iy amlet, Prinz von Dänemark, — von
__ I Schmerz und Scham überschüttet, nach
Schuld und Schuldigen spähend, — er-
fährt, daß Schauspieler an den könig-
lichen Hof kommen. Die Starrheit seines Ge-
mütes löst sich. Er spricht, etwa, zu sich:
„Sie werden dich aufrühren und dir ein Bei-
spiel zeigen. Sie werden deinem Schmerz, der
dich quält, einen größeren eingebildeten entgegen-
setzen, der dich erlöst, weil du dich und den
eigenen Schmerz in ihm erkennst.“
Ein zerquältes, zerkämpftes, zerstampftes, ein
fast entselbstetes Volk sieht zum Vorhang auf,
hinter dem unter Schminke und Flitter in willigen
Körpern und Köpfen imaginierter Zäsaren und
Sklaven, befohlener Heldinen und Huldinnen, das
Bild seines Schicksals schlummert. Sinne und
Gesinnung, vom Tag verbraucht, erneuern sich
vor diesem Vorhang. Er ist nicht nur, nicht
mehr ein Stück Leinwand. Er ist wie Wolke,
die eine Wirklichkeit von dem Bilde ihrer Ver-
heißung, von ihrem Himmel und Paradies trennt.
Er schafft Symbol. Starre Masken, lässig auf
ihn gemalt, nehmen dem vor der Bühne sitzen-
den Volk seine Zufälligkeit, seine alltägliche Be-
flissenheit und seine Ziellosigkeit.
Vor der Bühne sitzt Volk, „das Volk“. Jeder
Abend wird im Theater zum symbolischen Vor-
gang. Wen immer der Zufall in die Bänke des
Parketts führt, wer immer sich auf gepolsterten
Logensitzen räkelt, wer immer mit Galeriesitzen
klappert, Masken starren ihn nicht als zufälligen
Eindringling an, sondern erkennen ihn als not-
wendigen Teilnehmer am Spiel, als Abgesandten

einer Menschheit, eines Menschheits-Segmentes,
Volk genannt, als Repräsentanten einer mensch-
lichen Gesamtheit oder Gespaltenheit.
Das Publikum repräsentiert das Volk. Nicht
irgend ein Gevatter sitzt, um einer Langeweile
oder Sorge zu entgehen, vor dem Vorhang. Volk
sitzt da, Volk repräsentiert sich, kompakteste
Wirklichkeit, vor sich selbst, vor seinem Abbild.
Volk spiegelt sich in jenen Masken und in seinem
Schicksal.
Es spiegelt sich in denen, die aus irgendeinem
persönlichen Antrieb die Reihen füllen und durch
sie in dem, was aus dichterischem Antrieb die
Bühne erfüllt.
Eine zwangvolle Gegenüberstellung erfüllt sich:
Kunst und Volk, Symbol und Wirklichkeit!
Denn auch die Bühne ist nicht bloß, was sie
zu sein vorgibt: ein Aktienunternehmen oder eine
Schauspielersozietät. Mehr, anderes mehr ist sie:
Gipfelhafte Erscheinung über dem Flachland des
Wirklichen, Entflammung alles Symbolischen gegen
nächste und wildeste Realität, Ansturm gegen
Tag, Sorge und Rechnung, Protest gegen bürger-
liche Einkapselung, Aus- und Aufschrei dessen,
was noch nicht und nicht mehr ist, was aber
werden und wieder werden will.
Bühne ist, im weitesten Umfang und aus letz-
tem, tiefstem Bedürfnis herauf, Repräsentant der
Kunst vor dem Volk.
Und nicht nur dies! Wenn alles Hypokra-
tische, was Dilettantismus, Ästhetizismus, Snobis-
mus und verkalkte Technik allzugewohnter Übung
in sie hinein gefälscht hat, durch reine Einstellung
auf ihr urtümliches Wesen ausgeschieden ist,
dann wird ihr aus jeder Zweiheit ins Eins und
Einige drängendes Doppelgesicht fühlbar: sie ist
der jedem politischen Sinn entrückte Ort, wo
Mensch und Kunst, Mensch und Geist, wo
Mensch und Gott zusammenklingen.
Oft begibt sich, daß der Einzelne dahin findet,
 
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