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Gerstenberg, Kurt
Deutsche Sondergotik: eine Untersuchung über das Wesen der deutschen Baukunst im späten Mittelalter — München: Delphin-Verl., 1913

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https://doi.org/10.11588/diglit.47018#0121
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Zweiter Teil

Kapitel I: Raumgestaltung
). Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß eine neue Periode der
deutschen Baukunst um )4so beginnt, nicht um ;soc> mit dem Ein-
dringen der Renaissancemotive. Der Stil, der die Gotik ablöst,
erlangt seine malerische Freiheit in der zweiten Hälfte des ?s. Jahr-
hunderts. In diesem halben Jahrhundert sind die eigentlich lebens-
vollen Bauten entstanden, die eine neue lange Entwicklung ver-
heißen. Das )4. Jahrhundert aber hat die akademisch starre, oft
schulmeisterlich zierliche, immer doktrinär unfruchtbare Handhabung
der Formen gesehen, die die Hochgotik gereift hatte.
Gegenüber den schwunglos trockenen Raumexerzitien, die sich
im herkömmlichen Basilikalsystem bewegen, dokumentiert sich mit
der Sondergotik ein neuer Geist. Ein anderes Raumgefühl erwächst,
das sich am reinsten in der Hallenkirche, dem Raum mit drei gleich
hohen und gleich breiten Schiffen hat aussprechen können. Nicht
daß diese Raumform eine Erfindung des neuen Stils wäre: sie
wurde als altes Erbe in Westfalen und Hessen verwaltet. Hier
stand mit der Bartholomäuskapelle in Paderborn um )0)7 die
älteste Hallenkirche auf deutschem Boden. Und der Romanismus
hat sie weiter kultiviert und zwar durchweg ohne (Uuerschiff.
Nirgendwo tritt das Beharrende im räumlichen Aufbau so in
den Vordergrund wie in Westfalen. Der Stilwandel vom roma-
nischen zum gotischen Gewölbebau tritt dagegen zurück. Zu der
Dreischiffigkeit im Hallenbau kommt die Dreijochfolge im Grund-
riß als Regel hinzu. Das läßt erkennen, daß sich hier nie ein
starker Bewegungsdrang geltend machte. Das Lunstwollen West-
falens wandte sich ab von der Tiefenrhythmik der Pfeiler und
Gewölbe zugunsten des spezifisch Räumlichen. Rein Wunder, daß
die deutsche Gotik dann hier die beiden raumschönsten Hallenkirchen
hervorgebracht hat, den Dom in Minden und die Wiesenkirche in
Soest, die, obwohl das Proportionsgefühl der schlanken, leicht-
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