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Gerstenberg, Kurt
Deutsche Sondergotik: eine Untersuchung über das Wesen der deutschen Baukunst im späten Mittelalter — München: Delphin-Verl., 1913

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https://doi.org/10.11588/diglit.47018#0141
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wölbes sich in einzelne konkrete Gestalten umsetzte. Diese Räume
in Annaberg und Pirna auf der Höhe des Stils sind mit dem
freien Schwung ihrer Bewegung aus dem Körpergefühl der da-
maligen Menschen mit ihrer gesteigerten Vitalität entstanden. Aus
der Plastik der Backofen und Stoß erkennt man, welcher Gestalten
es bedurfte, um die Körpervorstellung zu befriedigen.
wenn man der Gotik in ihrer Entwicklung als Bewegungs-
stil nachgeht, so muß nach der ständigen Formverfeinerung einmal
die Stufe kommen, wo auch dieser Stil sein Empire aufweist:
das ist die Eigenart der Wolfgangskirche in Schneeberg —rö.
Gegenüber dem warmen Barock in Annaberg, selbst noch in Pirna,
hat hier der Raumeindruck etwas Erkältendes. Zehn schlanke Pfeiler
teilen die drei Schiffe in quadratische Joche auf. Doch bedeutet
das einzelne Joch nicht mehr einen spannungserfüllten Raum-
abschnitt, vielmehr bleibt das völlig entspannte Einzeljoch im Ge-
samteindruck ausgeschaltet. Die weiten Intervalle ergeben als
wesentliche Faktoren den Eindruck der Leere und Kahlheit, ja der
rationalen Nüchternheit. Im einheitlichen Bilde des Raumes sind
Langhaus und Chor nahtlos ineinander verschmolzen. Von einem
getrennten Chor ist nicht mehr die Rede. In flacher Kurve ist die
Ostwand herangeschoben: vier Seiten des Sechzehnecks fassen die
drei Schiffe zusammen (Tafel 3).
Die saalmäßige Raumvereinheitlichung wird gewährleistet durch
gleiche Höhe und Breite aller Schiffe. Dazu die Betonung in dem
grsßsparrigen Rippensystem, das gleichförmig sein Muster über
die ganze Decke breitet, ohne Differenzierung in Mittelschiff und
Seitenschiffen wie in Annaberg und Pirna. Die weite Stellung
der Pfeiler zieht die Gewölbekappen zu breiter, lastender Fläche
auseinander. Doch läßt die grobstarre Figuration die Decke im
Raumbild kaum noch optisch betont erscheinen. So ist alle Wirkung
den elementaren Kontrasten von Vertikale und Horizontale Vorbe-
halten. Die aufstrebenden Pfeiler erhalten ihr Gegengewicht in der
umlaufenden Empore, die nicht vor dem Chor abbricht oder gegen
die Wand verläuft, sondern den ganzen Raum, wie schon in Am-
berg, gleichmäßig umspannt. Ihre Funktion ist das Räumliche zu
unterstreichen. „Der notwendige Ausdruck des weiträumigen ist die
Horizontale" (Burckhardt, Cicerone II, öl.)
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