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»DER PREDIGER.« RADIRUNG VON WILLIAM STRANG.

Die schöne Originalradirung William Strangs, die das vorliegende Heft der Graphischen
Künste ziert, führt den Titel »Der Prediger«. Der Künstler war, als er sie schuf, gerade dreissig Jahre
alt und es war die Zeit, während der er besonders gern »Armes Volk« zur Darstellung brachte.

In wenigen seiner Platten erzählt Strang so viel wie in dieser.

Zwar hält sich der Künstler nicht an einzelne Äusserlichkeiten, in der Stimmung jedoch
versetzt uns dies Blatt in die Mitte einer Dissidentengemeinde, einer jener Scharen, denen der
Glaube nicht Gewohnheit, bei denen er pathologisch geworden ist. Der Prediger mit seiner
wehmuthsvollen, eindringlichen Geberde hat etwas vom seligen Mönch an sich, der das Glück der
Genügsamkeit erst nach dem herben Schmerz langer Entsagung entdeckt hat. So könnte man sich
die Fanatiker des ersten Kreuzzuges vorstellen!

Sein »Was heisst ihr mich aber: Herr, Herr, und thut nicht, was ich euch sage?« lastet schwül
auf der kleinen Gemeinschaft. Bei einem jeden fühlt sich die heimliche Seele getroffen und alle
erkennen in dieser Lehre nur die Pflicht und nicht die Liebe. Der rückfällige Sünder streckt die
Waffen vor seinem Schicksal und schläft; die willenlose Demuth erschlafft in hingebender
Ohnmacht; die Einfalt wiegt sich in Träume von späterem Ruhm; das Pharisäerthum hört gefällig,
ohne eine Miene zu verziehen, sein Lob heraustönen; die beklemmte Skepsis starrt über todt-
geschwiegenem Kampf dem grossen Räthsel ins Auge; die hysterische Schwärmerei verzieht die
Mundwinkel zum Schmerzeslächeln, ja selbst auf das Kind erstreckt sich die Wirkung, das gar
verdrossen spielt.

Selten, wie gesagt, hat Strang sich so eingehend in die Darstellung von Gemüthsbewegungen
vertieft. Aber auch hier ist sie ihm nicht Hauptsache, auch hier sind es die rein ästhetischen
Gesichtspunkte, die ihn eigentlich leiten. Die breite Einfachheit in der Behandlung ist bewunderungs-
würdig. Wie viele Striche wohl sind es Alles in Allem, die er zu dem Mantel des vorn rechts
sitzenden Ministranten nöthig hatte? Mit ausserordentlichem Geschick sind die weissen Stellen
gegen die schwarzen abgewogen: wenige Radirungen Strangs sind so farbig wie diese. Unbewusst
oder bewusst empfand der Künstler, dass der untere Theil seiner Composition, besonders gegen
links, ein wenig gedrängt und unruhig sei. Es ist ein Zeichen seines überaus feinfühligen
Empfindens, dass er diese Wirkung lähmt durch die breite Ruhe des unteren Randes. Man decke
diesen Rand einmal zu und jeder wird sofort spüren, wie wenig überflüssig er ist, obwohl er nie
zur Aufnahme einer Schrift bestimmt war.

Hans W. Singer.
 
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