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Kneipen und Tanzlokalen,
da,wo Instinkte und Leiden-
schaften hausen. Er zeich-
net den Arbeiter mit seiner
Freundin, oder die Arbeiterin
mit ihrem Freunde, die Ge-
setzlosen und die Tiefsten.
Und mit einer Bewegung
ihrer Gestalten, schnell zu-
gepackt und aufgeschrieben,
gibt er ihren Charakter und
ihre Geschichte, mit einem
halben flüchtigen Blick sagen
sie uns alle ihre Geheim-
nisse, und wir werden Mit-
wisser des Menschlichsten.
Oder er führt uns an die
Stätten der gewerbsmäßigen
Erotik. Aber hier reißt er der
Debauche ihre Maske von
Eleganz und Charme ab: er
zeigt uns das nackte Antlitz
mit allen Linien seiner Bru-
talität und seinem Kummer,
mit seiner Mischung aus
Tier und Spekulant, mit den
Zügen seiner Häßlichkeit.
Und dasselbe Gefühl der
Aufrichtigkeit, in dem er
diese Erscheinungen immer

Henri de Toulouse-Lautrec, »Lugne Poe dans l'Image«. Lithographie. Un^ immer Wieder SUCht,

Sammlung des Herrn Dr. H. H. Meier jun. treibt ihn in die Theater Und

in die Varietes, in den Zirkus und in die Gerichtsverhandlungen. Dies ist keine Kaprice von
ihm. Denn in einer Welt, wo das Natürliche fast verpönt ist, flüchtet es sich in die Verstellung
und die Mummerei, und im Spiel, im Unechten, im Gemachten und in der Pose kommt es wieder
zutage. Er zeichnet uns eine Szene aus Moliere oder mit Figuren aus Moliere, die Menschen
sind in ihrem Wesen stilisiert und gedrechselt, man hört das Klappern der Kothurne und da,
plötzlich, eine Wendung einer Hüfte, ein Seitenblick aus einem erlernten Augenaufschlag, und
das unverwüstlich Lebendige, das über allen Zeiten Wirksame, kurz: das Menschliche wird
handgreiflich mit einer fast quälenden Deutlichkeit, so wie bei schlechten Schauspielern manchmal,
die sich nicht verstellen können. Dies ist der Reiz am Kostüm bei einer Gruppe von Arbeiten
Lautrecs, der Reiz des Archaischen, das ja immer herhalten muß, wenn irgendwo die Konventionen
zerschlagen werden. Man darf bei Lautrec nicht zwei Seelen in seiner Brust konstruieren — den
einen Lautrec, der das moderne Laster darstellt, und den anderen, der sich am Barock und Rokoko

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