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Adern, denn seine Großmutter war eine Engländerin. Der Vater war ein begeisterter Dante-Forscher,
und der Knabe wuchs in einer literarischen Atmosphäre auf. Sein Sinn für Kunst und seine Neigung
zum Zeichnen offenbarten sich frühzeitig, aber seine literarische Begabung hatte sich noch früher
entfaltet. Nach fünf Schuljahren in King's College, wo sein Vater Professor des Italienischen war,
kam Dante Gabriel an eine Kunstschule und etwa vier Jahre später, im Jahre 1846, ward er in die
Antikenschule der Royal Academy aufgenommen.

In der englischen Kunst jener Tage gab es wenig, was einen jungen Enthusiasten hätte
anlegen können. Turner war noch am Leben, obzwar mit geminderten Kräften. Aber selbst die
Landschaftsschule, die in den Anfangsjahren des XIX. Jahrhunderts so frisch und kraftvoll
gewesen war. die Schule von Turner und Girtin, von Crome, Cotman und Constable war zur
bloßen Sucht nach dem Pittoresken ausgeartet. Die Figurenmalerei befand sich in einem noch
schlimmeren Zustand; den Leuten fehlte es nicht an Talent, aber es fehlte ihnen an Ideen und
anregender Kraft. Der Triumph des Geschäftsgeistes begann sich fühlbar zu machen. In allem Kunst-
gewerbe war die Tradition unterbrochen. Häßliche maschinerzeugte Formen überwogen überall. Die
Künste hatten den Zusammenhang miteinander und mit demLeben der Nation verloren.DerGeschmack
stand auf einer tieferen Stufe, als dies je in der Geschichte Europas der Fall gewesen war.

Was Wunder, daß einen jungen Menschen von der echt poetischen Veranlagung Rossettis
damals der Tiefstand der zeitgenössischen Kunst abstieß. Aber er dachte im Gegensatz zu den
meisten Engländern, die zufrieden sind, wenn sie ungestört und unabhängig arbeiten können, an
einen Sammelpunkt und suchte Gefährten, um mit ihnen gemeinschaftliche Sache gegen die
Tendenzen der Zeit machen zu können. Er stieß zuerst auf Madox Brown, einen um einige Jahre
älteren Mann, der bereits in seinen kraftvollen Zeichnungen große Ehrlichkeit des Strebens an den
Tag gelegt hatte. Rossetti gab das Studium nach der Antike auf, verließ die Akademie und wurde
für kurze Zeit Browns Schüler. Madox Brown jedoch zog es, obwohl er mit Recht der Nährvater
der präraffaelitischen Bewegung genannt werden kann, vor, allein zu stehen, und Rossetti hatte
bald einen Genossen seines eigenen Alters gefunden. Es war Holman Hunt, dessen Gemälde auf der
Ausstellung der Akademie im Jahre 1848 von Rossetti mit Begeisterung als das beste des Jahres
begrüßt wurde. Daß Hunts Bild durch ein Gedicht von Keats angeregt war, empfahl es noch mehr.
Denn wenn Brown der Nährvater der neuen Bewegung war, so war Keats ihr geistiger Vater.

Englands nationale Kunst ist die Dichtung und auf dem Gebiete der Poesie hatte der Geist
der Romantik bereits am Eingang des Jahrhunderts eine glänzende Auferstehung gefeiert. Aber
mit Ausnahme von William Blake hatten die englischen Maler Phantasieschöpfungen gemieden
oder hatten in dem Bemühen, solche zu schaffen, versagt. Rossetti und seine Freunde hatten den
hohen Ehrgeiz, die englische Malerei der englischen Dichtkunst in der Kraft und Glut der Phantasie
ebenbürtig zu machen, und besonders Keats zog sie an; denn Keats besaß neben seinem aus-
gesprochen romantischen Naturell eine außergewöhnlich malerische Einbildungskraft. Einige von
den schönsten Werken der Präraffaeliten wurden durch Gedichte von Keats angeregt.

Rossetti und Hunt fanden einen andern beachtenswerten Sinnesverwandten und Genossen
in John Everett Millais, dem glänzenden jungen Akademiker, der bereits in einem oder zwei
historischen Gemälden seine große technische Geschicklichkeit gezeigt hatte, aber nun daran war,
seinen Stil vollständig zu ändern.

Es war an einem Abend in Millais' Hause, daß sieh die drei Freunde beim Betrachten von
Lasinios Stichen nach den Fresken im Campo Santo zu Pisa entschlossen, sich selbst die
»präraffaelitische Bruderschaft« zu nennen. Der Name war insofern irreführend, als er an eine

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