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SCHWIND UND MÖRIKE.

Wenn wir in den letzten Jahren gar oft glaubten und heute noch glauben, an der Mensch-
heit verzweifeln zu müssen und in einer sittlichen Welt zu leben, auf die fast die Worte Chamforts
passen, dem sie als das Werk eines verrückt gewordenen Teufels erschien, so gibt es nur eine
Hilfe: daß wir Deutschen uns besinnen und dn das denken, was wir an wahren, großen, innerlichen
geistigen Gütern besitzen. Diese Güter sind die wirklichsten, die es gibt, sie können uns nicht
genommen werden, sie gehören uns ganz und mehr als den anderen Völkern, denen oft gerade das
Schönste und Innerlichste daran fremd ist. Diese Güter werden uns bleiben; denn »Was einem
angehört, wird man nicht los und wenn man es wegwürfe«, sagt Goethe.

Solche Güter besitzen wir auch in dem, was uns die Namen Schwind und Mörike bedeuten.
Es gibt bekanntlich von ihnen einen köstlichen Briefwechsel, von dem erst vor wenigen Monaten
eine neue, dankenswerte, stark vermehrte Ausgabe' erschienen ist. Die beiden großen Künstler
— Mörike, der schwäbische Dichter, und Schwind, der in Wien geborene und später in München
ansässige Maler — stehen einander, auch abgesehen von ihren persönlichen Beziehungen, so
nahe, daß ein ganz besonderes Band sie zu vereinigen scheint. Dies erst gibt jenem Briefwechsel
seinen unschätzbaren Wert, seinen ungewöhnlichen Reiz, er gehört zu den seltensten Erscheinungen
dieser Art.

Schwind und Mörike, die, beide im Jahre 1804 geboren, genau gleich alt sind, haben erst als
reife Künstler, ja als alte Männer persönliche Beziehungen angeknüpft. Sie waren freilich einander
schon vorher nicht ganz fremd gewesen: gegenseitiges Verständnis, wahre Sympathie und Kenntnis
der Werke des andern gehen voraus. Dazu kommen noch gemeinsame Freunde, wie der Dichter
Paul Heyse in München und der Musikdirektor Otto Scherzer in Tübingen. Dieser Tonkünstler,
der von 1854 bis 1860 als Organist, Chordirektor und Konservatoriumsprofessor in München lebte
und hier mit Schwind befreundet wurde, gab den Anlaß zur ersten Bekanntschaft der beiden. Bei
einem Besuch in Tübingen las Mörike diesem Freunde ein eben entstandenes Gedicht vor, Erinna
an Sappho, das, in Form und Stoff antik, doch so voll edlen Inhalts köstlicher und feiner moderner
Empfindung ist: die reizende Freundin und Schülerin der Sappho wird sich plötzlich am Putztisch
des eigenen Todesgeschicks bewußt. Nun kommt Scherzer der Gedanke, das Gedicht könnte in
der Stuttgarter illustrierten Zeitschrift »Freya« mit einer Zeichnung von Schwind veröffentlicht
werden. Mörike trägt selbst in seiner edel bescheidenen Weise dem Künstler sein Anliegen brieflich
vor, nicht ohne Zweifel, ob »der Meister gerade dies, und ob er eben jetzt wolle«.

1 Briefwechsel zwischen Eduard Mörike und Moritz v. Schwind. Herausgegeben von Hans Wolfgang Rath, Stuttgart o. J. — Die erste
Ausgabe von J. Baechtold ist in Leipzig 1890 erschienen.

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