Altersleben des Gebäudes dargestellt. Kaum irgendeine kraftvolle, gesund gewachsene Gerade, kaum
irgendeine Kurvatur, in stark gespannter Schwingung ausgewölbt! Vielmehr der ganze Bau ist
eine Anhäufung von mürben, abwelkenden Formen. — Die Schauseite des Münsters sieht man
nicht, den großzügigen Aufbau der Portalfassade, sondern den überzwerchen, winkelreichen Chor.
Von hier aus gesehen wirken die gotischen Dome in dem Gestänge ihrer Stützen wie urweltliche
Krustentiere, wie Seekrebse, die unbeholfen im Spreizwerk ihrer dürren Beine hängen. Mit einem
Wort: die Kathedrale ist als Ruine wahrgenommen, wenn wir nicht, etwas weitergehend, im Sinne
Ensors noch präziser sagen wollen: Sein Münsterbau ist als Skelett visiert.
Derart absterbend steht die Kathedrale über dem volkerfüllten Markt, der seine Schrecknisse
und Narreteien gleich einem trüben Schlamm an ihren Sockel spült. Doch über diesen Andrang
rüder Gegenwart und wüster Spukgestalten erhebt sie sich weit über alle Rahmenschranken in
Dämmerungen der Unendlichkeit. Um ihrer Höhendimension den Schein des Grenzenlosen zu ver-
leihen, brachte der Radierer nur den nicht ausgebauten Turm der Kathedrale im Bildfeld zu
geschlossener Erscheinung, während der zweite von dem Rahmen überschnitten wird. So mag
denn dieser andere Turm (die Phantasie ergänzt: der ausgebaute) hoch über alle Rahmengrenzen
in die Lüfte steigen. Um diesen Raumgedanken der Unendlichkeit auch auf die Tiefendimension
zu übertragen, hat Ensor in dem fernen Hintergrund das Bild der Stadt zu der ganz lockeren
Erscheinung der feingliedrigsten Glockentürme aufgelöst, die nicht mehr steingemauerte Gebäude
scheinen, sondern viel eher wie das Filigran verschnürter Masten in ganz fernen Häfen wirken.
Wie sich in dem formalen Widerspiel der Darstellung hier letzte Lockerung, dort äußerste
Verdichtung, hier grenzenlösendes Verschweben, dort grenzensprengendes Gedräng die Wage halten,
so gleichen sich in der Idee des Bildes die beiden gegensätzlichen Empfindungen: das Dumpfe
panischer Beklommenheiten und die Helligkeit nirwanischer Enthobenheiten aus. — In-
mitten dieser beiden Seelenzonen, das bange Unten und das lichte Oben bindend, steht die Kathe-
drale, der altersmüde, absterbende Münsterbau. Nur als Ruine hat sie einen Sinn als Mittler
zwischen diesen zwei Bezirken, da diese einzigin dem Todveiiangen, im Wunsch, sich aufzulösen,
ihren Ausgleich finden. So daß wir in sehr zugespitzter Formulierung diese Schöpfung James Ensors
als das vorwegnehmende Wunschbild einer letzten Stunde, wo all das schreckhafte Geräusch des
Irdischen sich in dem Einklang des Entwerdens löst, bezeichnen dürfen.
Das Münster als Ruine und Skelett gesehen, ist eine gotisierende Metapher, welche das gleiche
Selbsterlebnis James Ensors birgt, das ihn im Jahre 1888 und ein Jahr später noch ein anderes
Mal dazu gezwungen hat, zwei Selbstbildnisse zu radieren, auf denen er als ein Skelett erscheint.
»Mon portrait squelettise« — in diesem Titel ist die makabre Quintessenz der Kathedrale ein-
beschlossen. Wilhelm Fraenger.
irgendeine Kurvatur, in stark gespannter Schwingung ausgewölbt! Vielmehr der ganze Bau ist
eine Anhäufung von mürben, abwelkenden Formen. — Die Schauseite des Münsters sieht man
nicht, den großzügigen Aufbau der Portalfassade, sondern den überzwerchen, winkelreichen Chor.
Von hier aus gesehen wirken die gotischen Dome in dem Gestänge ihrer Stützen wie urweltliche
Krustentiere, wie Seekrebse, die unbeholfen im Spreizwerk ihrer dürren Beine hängen. Mit einem
Wort: die Kathedrale ist als Ruine wahrgenommen, wenn wir nicht, etwas weitergehend, im Sinne
Ensors noch präziser sagen wollen: Sein Münsterbau ist als Skelett visiert.
Derart absterbend steht die Kathedrale über dem volkerfüllten Markt, der seine Schrecknisse
und Narreteien gleich einem trüben Schlamm an ihren Sockel spült. Doch über diesen Andrang
rüder Gegenwart und wüster Spukgestalten erhebt sie sich weit über alle Rahmenschranken in
Dämmerungen der Unendlichkeit. Um ihrer Höhendimension den Schein des Grenzenlosen zu ver-
leihen, brachte der Radierer nur den nicht ausgebauten Turm der Kathedrale im Bildfeld zu
geschlossener Erscheinung, während der zweite von dem Rahmen überschnitten wird. So mag
denn dieser andere Turm (die Phantasie ergänzt: der ausgebaute) hoch über alle Rahmengrenzen
in die Lüfte steigen. Um diesen Raumgedanken der Unendlichkeit auch auf die Tiefendimension
zu übertragen, hat Ensor in dem fernen Hintergrund das Bild der Stadt zu der ganz lockeren
Erscheinung der feingliedrigsten Glockentürme aufgelöst, die nicht mehr steingemauerte Gebäude
scheinen, sondern viel eher wie das Filigran verschnürter Masten in ganz fernen Häfen wirken.
Wie sich in dem formalen Widerspiel der Darstellung hier letzte Lockerung, dort äußerste
Verdichtung, hier grenzenlösendes Verschweben, dort grenzensprengendes Gedräng die Wage halten,
so gleichen sich in der Idee des Bildes die beiden gegensätzlichen Empfindungen: das Dumpfe
panischer Beklommenheiten und die Helligkeit nirwanischer Enthobenheiten aus. — In-
mitten dieser beiden Seelenzonen, das bange Unten und das lichte Oben bindend, steht die Kathe-
drale, der altersmüde, absterbende Münsterbau. Nur als Ruine hat sie einen Sinn als Mittler
zwischen diesen zwei Bezirken, da diese einzigin dem Todveiiangen, im Wunsch, sich aufzulösen,
ihren Ausgleich finden. So daß wir in sehr zugespitzter Formulierung diese Schöpfung James Ensors
als das vorwegnehmende Wunschbild einer letzten Stunde, wo all das schreckhafte Geräusch des
Irdischen sich in dem Einklang des Entwerdens löst, bezeichnen dürfen.
Das Münster als Ruine und Skelett gesehen, ist eine gotisierende Metapher, welche das gleiche
Selbsterlebnis James Ensors birgt, das ihn im Jahre 1888 und ein Jahr später noch ein anderes
Mal dazu gezwungen hat, zwei Selbstbildnisse zu radieren, auf denen er als ein Skelett erscheint.
»Mon portrait squelettise« — in diesem Titel ist die makabre Quintessenz der Kathedrale ein-
beschlossen. Wilhelm Fraenger.