DOI Artikel:
Seligmann, A. F.: Johanna Kampmann-Freund
DOI Seite / Zitierlink: https://doi.org/10.11588/diglit.6346#0106
der Charakteristik, also
zur Erzeugung einer
»Naturwahrheit« im
höheren Sinne. Die neue
Schule aber ging viel
weiter. Die natürlichen
Proportionen, die Ge-
setze der Anatomie,
der Perspektive, der
Licht- und Schatten-
lehre, ja jeglicher Dar-
stellung überhaupt,
sollten geopfert wer-
den und damit auch
alles, was man bis
dahin unter dem Be-
griff »künstlerisches
Können« zusammen-
gefaßt hatte und als
einen wesentlichen, ja
in manchen Epochen
als den wesentlichsten
Teil einer künstleri-
schen Leistung anzu-
sehen gewohnt war.
Dies mußte vor-
ausgeschickt werden,
weil wir hier von einer
Künstlerin sprechen
wollen, derenEntwick-
lung zur Selbständig-
keit eben in jene kriti-
sche Epoche fiel, und
die ihrer Geistesrich-
tung nach zwar durch-
aus zur modernen Schule gehört, mit deren formalen und geistigen Problemen sie sich intensiv
beschäftigt, dabei aber doch ihren ganzen Vorrat an früher erworbenem Können in ihre Produktion
herübergerettet hat — ein nicht eben häufiger, aber um so mehr vorbildlicher Fall.
Schon vor dem Kriege fielen gelegentlich im Künstlerhaus, dann in den Ausstellungen, die von
der damals neugegründeten »Vereinigung bildender Künstlerinnen Österreichs« veranstaltet wurden,
graphische Blätter figuralen und landschaftlichen Inhaltes auf, meist mit weichem Graphitstift klar und
fest gezeichnet, ein starkes Können und eine ausgesprochen persönliche Handschrift verratend. Die
charakteristischen Formen waren gewöhnlich schon durch den Umriß gegeben, die Schatten nur
hie und da angedeutet; alles ein wenig herb und dem Geschmack des Durchschnittspublikums nicht
Johanna Kampmann-Freund, Geschwister.
Kahle- und Bleistiftzeichnung.
0$ 1
90
zur Erzeugung einer
»Naturwahrheit« im
höheren Sinne. Die neue
Schule aber ging viel
weiter. Die natürlichen
Proportionen, die Ge-
setze der Anatomie,
der Perspektive, der
Licht- und Schatten-
lehre, ja jeglicher Dar-
stellung überhaupt,
sollten geopfert wer-
den und damit auch
alles, was man bis
dahin unter dem Be-
griff »künstlerisches
Können« zusammen-
gefaßt hatte und als
einen wesentlichen, ja
in manchen Epochen
als den wesentlichsten
Teil einer künstleri-
schen Leistung anzu-
sehen gewohnt war.
Dies mußte vor-
ausgeschickt werden,
weil wir hier von einer
Künstlerin sprechen
wollen, derenEntwick-
lung zur Selbständig-
keit eben in jene kriti-
sche Epoche fiel, und
die ihrer Geistesrich-
tung nach zwar durch-
aus zur modernen Schule gehört, mit deren formalen und geistigen Problemen sie sich intensiv
beschäftigt, dabei aber doch ihren ganzen Vorrat an früher erworbenem Können in ihre Produktion
herübergerettet hat — ein nicht eben häufiger, aber um so mehr vorbildlicher Fall.
Schon vor dem Kriege fielen gelegentlich im Künstlerhaus, dann in den Ausstellungen, die von
der damals neugegründeten »Vereinigung bildender Künstlerinnen Österreichs« veranstaltet wurden,
graphische Blätter figuralen und landschaftlichen Inhaltes auf, meist mit weichem Graphitstift klar und
fest gezeichnet, ein starkes Können und eine ausgesprochen persönliche Handschrift verratend. Die
charakteristischen Formen waren gewöhnlich schon durch den Umriß gegeben, die Schatten nur
hie und da angedeutet; alles ein wenig herb und dem Geschmack des Durchschnittspublikums nicht
Johanna Kampmann-Freund, Geschwister.
Kahle- und Bleistiftzeichnung.
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