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Gesellschaft für Vervielfältigende Kunst [Hrsg.]
Die Graphischen Künste — N.F. 2.1937

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Musper, Theodor: Die Urausgabe der niederländischen Biblia Pauperum
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https://doi.org/10.11588/diglit.6337#0087

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TH. MUSPER / DIE URAUSGABE DER NIEDERLÄNDISCHEN

BIBLIA PAUPERUM

In dem französisch gedruckten Hauptwerk1 von W. L. Schreiber findet sich der Satz: „j'ai
acquis la certitude que les xylographes n'etaient nullement des dessinateurs, mais que leur
but etait de reproduire aussi exactement que possible un manuscrit a figures, un dessin a la
plume ou bien une gravure sur bois deja existante". Dieser Satz beweist, daß Schreiber eine
unklare Vorstellung von der Funktion des Holzschneiders hatte. Es ist richtig, daß die Holz-
schneider — versteht Schreiber unter „xylographes" Zeichner auf den Holzstock oder Holz-
schneider? — keine entwerfenden Zeichner waren, aber es ist falsch, sie für Kopisten zu er-
klären. Das Ideal ist, daß der Künstler seine Zeichnungen selbst schneidet, aber im allgemeinen
muß man unterscheiden zwischen dem Künstler und dem Holzschneider. Der Zeichner auf den
Holzstock — mögen nun gezeichnete Vorlagen mittelbar oder unmittelbar verwendet werden
oder nicht — ist die wichtigere Persönlichkeit. Der Holzschneider soll allerdings den Künstler
in seinen Absichten unterstützen, aber seine Funktion ist zunächst eine handwerkliche, die des
mehr oder weniger verständnisvollen Schneidens schon vorhandener Linien in Holz.

Diese Klarstellung wäre weniger dringlich, wenn sich nicht der Mangel sicherer Grundbegriffe,
zu dem noch die störende Bindung an die naturalistische Kunstauffassung seiner Zeit kam,
gerade bei Schreiber bitter gerächt und den verdienten Forscher um die schönsten Früchte
jahrzehntelanger Bemühungen gebracht hätte. Seine Darlegungen mußten notwendigerweise
unlogisch und widerspruchsvoll werden. Der radikale Unterschied zwischen Kopie und Original
verflüchtigte sich ihm. Wie oft er über den eigenen Konstruktionen strauchelte, wie oft er nahe
daran gewesen sein mag, den Grundfehler zu erkennen, zeigt sich in seinen Texten immer
wieder, ich brauche es im einzelnen nicht aufzuzeigen.

Es genügt, kurz daran zu erinnern, daß seine Gliederung des Materials in zehn Ausgaben,2
unter denen sich die Urausgabe nicht befinde, allgemein gutgeheißen und die Behauptung,
„que la beaute de l'edition I lui donne la preeminence entre toutes les editions, qui nous sont
restees", allgemein angenommen wurde.3 Wenn sich auch einmal eine Stimme meldete, die
Reihenfolge könne nicht stimmen, schienen doch angesichts der wirklich profunden Gelehr-
samkeit Schreibers und der Unübersichtlichkeit der weit zerstreuten Bücher grundsätzliche
Zweifel nicht am Platze. Die mäßigen Reproduktionen nach Beispielen aus den verschiedenen
Ausgaben, denen der volle Ernst und die volle Ehrfurcht einer zünftigen Wissenschaft entgegen-
gebracht wurde, obwohl sie Nachschnitte enthielten, führten nicht weiter. Dazu kam die Un-
durchsichtigkeit der Methode Schreibers, der seine Beweise merkwürdigerweise am ungeeig-
netsten Material, führte, nämlich an den Säulenrahmen, die der individuellen Hand den ge-
ringsten Spielraum lassen und bei denen, wie er selbst sagt, so häufig der Druck ausläßt.

Wer konnte ahnen, daß sich die Urausgabe unter den zehn Schreiberschen Editionen verbarg ?
Daß gerade die achte Ausgabe, die von Schreiber unter manchen despektierlichen Redensarten
(gravee avec peu d'esprit, les visages sans expression, les lettres grandes et maladroites, les traits
de hachures grossiers etc.) behandelt wurde, daß diese also verpönte und verachtete Ausgabe,
die Schreiber zudem als Kopie nach der dritten und der ersten Ausgabe bezeichnete, die Ur-
ausgabe sei?

1 Manuel de l'amateur de la gravure sur bois et sur metal au XVe siede, Leipzig 1891—1902, Band IV, S. 2.

2 Sie enthalten — wenn man von Kleinigkeiten absieht — offenbar nur sechs verschiedene Plattenfolgen.

3 So auch von M. J. Schretlen, Dutch and flemish woodcuts of the fifteenth Century, 1925, S. 17, oder noch 1932
von Hildegard Zimmermann im Reallexikon zur deutschen Kunstgeschichte, herausgeg. von Otto Schmitt, S. 1078.

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