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Gesellschaft für Vervielfältigende Kunst [Hrsg.]
Die Graphischen Künste — N.F. 3.1938

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Bodmer, Heinrich: Bemerkungen zu Annibale Carraccis graphischem Werk
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https://doi.org/10.11588/diglit.6338#0112
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HEINRICH BODMER / BEMERKUNGEN ZU ANNIBALE CARRACCIS

GRAPHISCHEM WERK

Der erste signierte und datierte Stich Annibales, eine Kreuzigung Christi (B. 5), stammt aus
dem Jahre 1581. Diese Arbeit steht noch völlig im Zeichen der älteren Bologneser Graphik, wie
sie etwa durch Bonasone und Domenico Tibaldi, den Lehrer Agostinos, vertreten ist. Das ge-
samte graphische Schaffen des früheren Cinquecento beruht auf dem Prinzip einer plastisch
körperlichen Formanschauung der menschlichen Gestalt und des sie umgebenden Raumes,
welche der Künstler mit Hilfe eines außerordentlich gepflegten und geschmeidigen Linien-
systems und mittels paralleler die Formen begleitender Strichlagen zu gegenständlicher Deut-
lichkeit erhebt. Es handelt sich im Grunde genommen noch immer um das von Marcantonio
Raimondi und seinen unmittelbaren Schülern zu klassischer Gültigkeit erhobene graphische
Verfahren, welches im Laufe des Cinquecento in der Schule von Mantua und bei den veneziani-
schen Stechern des Tiziankreises die mannigfaltigsten Wandlungen durchgemacht hat, ohne
dabei die Grundprinzipien seiner allen Anforderungen gewachsenen linearplastischen Form-
beschreibung zu ändern.

Auch zwei weitere datierte oder datierbare Stiche Annibales, eine Madonna mit Kind und
dem heiligen Michael von 1582 nach dem gleichnamigen Bilde Lorenzo Sabbatinis (B. 12)
(Abb. 1) und eine kaum viel später entstandene Madonna mit Kind in Wolken (B. 10) (Abb. 2)
nach einem Vorbilde Barroccis, beruhen auf diesem Prinzip. Bei beiden Arbeiten fällt die große
bis zur äußeren Imitation gehende Abhängigkeit von dem stecherischen Verfahren Agostinos
auf. Der ältere Bruder, seit der frühesten Jugend im Kupferstich ausgebildet und seit mehreren
Jahren als selbständiger Meister tätig, übt einen bestimmenden Einfluß auf den ihm an Erfah-
rung nicht gewachsenen jüngeren Annibale aus. Trotz der weitgehenden stilistischen Überein-
stimmung lassen sich in der Behandlung und der Auffassung beider Brüder Unterschiede fest-
stellen. Der graphische Ausdruck Annibales zeichnet sich durch besondere Eleganz und Ge-
schmeidigkeit der Linie aus. Auch in der kristallinischen Klarheit der Zeichnung des Falten-
werkes und der plastischen Herausarbeitung der Körperformen steht er Agostinos keineswegs
nach. Aber in der Kunst der Graduierung und Abstufung der Dunkelheiten nach der Tiefe hin
und in der Delikatesse der malerischen Differenzierung der Tonwerte vermag er mit dem Bruder
nicht Schritt zu halten. Auch ist er Agostino nie auf jene Bahn gefolgt, die den eigentlichen
Umschwung des italienischen Kupferstiches gegen Ende des Cinquecento herbeiführte: die An-
passung der Linie durch leichte Krümmung an die Rundung der Form, durch welche der graphi-
sche Ausdruck eine so große Bereicherung erfahren sollte.

Daß die Anfänge der Tätigkeit Annibales als Graphiker in die Jahre 1581 und 82 zurück-
gehen, beruht auf keinem Zufall. Es ist die Zeit des ersten öffentlichen Hervortretens der
Carracci, der Gründung der Akademie und einer auf allen Gebieten der Kunst aufs Höchste
gesteigerten Tätigkeit. Im Jahre 1582 fand jener erste denkwürdige Aufenthalt Agostinos in
Venedig statt, der seinen Namen als Stecher mit einem Schlag in Italien bekanntmachen sollte.
Nichts ist deswegen natürlicher, als daß der junge Annibale, der in keiner Beziehung hinter
seinem Bruder zurückstehen wollte, nun ebenfalls seine Kräfte auf einem Gebiete erprobte, das
Agostino so reiche Anerkennung gebracht hatte.

Im Jahre 1585 nimmt der Künstler nach mehrjähriger Unterbrechung die Stechkunst wieder
auf. Die Reproduktion von Werken anderer Künstler besitzt nun keinen Reiz mehr für ihn.
Seine lebhafte Phantasie will eigene künstlerische Gedanken gestalten. Das gepflegte Strich-

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