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URCHRISTENTUM
Streckung oder Verschleifung zeigt dem Eingeweihten bereits im Schriftbilde
den Rhythmus an, aus dem er auch die nicht gesetzten Vokale zu ergänzen ver-
mag. Denn die Sprache des Orientalen ist in erster Linie Rhythmus, ja Gesang,
aus dem sich ihm Sinn und Zeichen erst erschließt, während wir vom Zeichen
auf das Wort, vom Wort auf den Sinn zurückschließen. Satz- und Wortende,
der wechselnde Unterschied von Groß- und Kleinbuchstaben bietet hier keinen
Anlaß zur schematischen Durchlöcherung und Zerreißung der rhythmisch hin-
fließenden Textfolge (Tafel 2—5), oder treten eben nur in dem Sinne in Erschei-
nung, als sie mit dem gesanglichen Rhythmus der Spradie zusammenfallen. Durch
die Unmittelbarkeit, mit der die Schrift dem Orientalen rhythmisch sichtbarer
Ausdruck des Geistigen ist, wird sie zur Kunstform, die dem Europäer freilich
meist nur als ornamentaler Charakterwertbar ist. Aber nicht als Hinzugekommenes,
bloß schmückend Füllendes — denn die Fläche ist nicht umgrenzt —, sondern
selbst die Fläche als ein Unendliches, Abstraktes schaffend, wird sie gleichwertig
mit den sie begleitenden Ranken und den östlicher, flächiger Darstellungsweise
entsprungenen Figuren (Tafeln 4, 5). So fügt sich hier Schrift und Ornament,
Schrift und Figur zu einem Flächen schaffenden Rhythmus, in Farbe und Linie
klingt eines mit dem anderen zusammen. Von Bedeutung ist auch, daß die Schrift
auf den beiden Seiten des Blattes einmal von oben nach unten, das andere Mal
von unten nach oben, in anderen Fällen zugleich auch wagerecht verlaufen kann,
ein Zeichen, wie ihre Handhabung sich nicht nach den äußeren Gesetzen von
Blatt- und Buchform richtet, sondern das ihr selbst eigene rhythmische Gesetz
freizügig aber bedeutungsvoll nach allen Seiten gehandhabt werden kann. So
tritt schon im rhythmischen Gesamtbild der Sinn in Erscheinung; sei es als der
freie Fluß des Gedankens oder als das schematische Register der Kanones, d. i.
der inhaltlich einander entsprechenden Evangelienstellen (Tafel 7). Anderseits
haftet auch dem einzelnen Buchstaben, wo er noch nicht zu dem der Willkür
des persönlichen Handzuges des Schreibers ausgesetzten Zeichen geworden
ist, der Rhythmus seiner ursprünglichen bildhaften Bedeutung an (Tafel 2a)
und übt auch auf den Uneingeweihten seine magische Kraft aus. Nicht die
Individualität des Schreibers, sondern die des Zeichens tritt in den Vordergrund.
Diese eigentümliche Spannung, die durch die Unterwerfung der Schreiber-
persönlichkeit unter die Individualität der Zeichen entsteht, und die es dem
Kundigen sogar ermöglicht, den Sinn ohne den Umweg über den Wortbegriff
unmittelbar im Rhythmus zum Ausdruck zu bringen und aufzufassen, verliert
URCHRISTENTUM
Streckung oder Verschleifung zeigt dem Eingeweihten bereits im Schriftbilde
den Rhythmus an, aus dem er auch die nicht gesetzten Vokale zu ergänzen ver-
mag. Denn die Sprache des Orientalen ist in erster Linie Rhythmus, ja Gesang,
aus dem sich ihm Sinn und Zeichen erst erschließt, während wir vom Zeichen
auf das Wort, vom Wort auf den Sinn zurückschließen. Satz- und Wortende,
der wechselnde Unterschied von Groß- und Kleinbuchstaben bietet hier keinen
Anlaß zur schematischen Durchlöcherung und Zerreißung der rhythmisch hin-
fließenden Textfolge (Tafel 2—5), oder treten eben nur in dem Sinne in Erschei-
nung, als sie mit dem gesanglichen Rhythmus der Spradie zusammenfallen. Durch
die Unmittelbarkeit, mit der die Schrift dem Orientalen rhythmisch sichtbarer
Ausdruck des Geistigen ist, wird sie zur Kunstform, die dem Europäer freilich
meist nur als ornamentaler Charakterwertbar ist. Aber nicht als Hinzugekommenes,
bloß schmückend Füllendes — denn die Fläche ist nicht umgrenzt —, sondern
selbst die Fläche als ein Unendliches, Abstraktes schaffend, wird sie gleichwertig
mit den sie begleitenden Ranken und den östlicher, flächiger Darstellungsweise
entsprungenen Figuren (Tafeln 4, 5). So fügt sich hier Schrift und Ornament,
Schrift und Figur zu einem Flächen schaffenden Rhythmus, in Farbe und Linie
klingt eines mit dem anderen zusammen. Von Bedeutung ist auch, daß die Schrift
auf den beiden Seiten des Blattes einmal von oben nach unten, das andere Mal
von unten nach oben, in anderen Fällen zugleich auch wagerecht verlaufen kann,
ein Zeichen, wie ihre Handhabung sich nicht nach den äußeren Gesetzen von
Blatt- und Buchform richtet, sondern das ihr selbst eigene rhythmische Gesetz
freizügig aber bedeutungsvoll nach allen Seiten gehandhabt werden kann. So
tritt schon im rhythmischen Gesamtbild der Sinn in Erscheinung; sei es als der
freie Fluß des Gedankens oder als das schematische Register der Kanones, d. i.
der inhaltlich einander entsprechenden Evangelienstellen (Tafel 7). Anderseits
haftet auch dem einzelnen Buchstaben, wo er noch nicht zu dem der Willkür
des persönlichen Handzuges des Schreibers ausgesetzten Zeichen geworden
ist, der Rhythmus seiner ursprünglichen bildhaften Bedeutung an (Tafel 2a)
und übt auch auf den Uneingeweihten seine magische Kraft aus. Nicht die
Individualität des Schreibers, sondern die des Zeichens tritt in den Vordergrund.
Diese eigentümliche Spannung, die durch die Unterwerfung der Schreiber-
persönlichkeit unter die Individualität der Zeichen entsteht, und die es dem
Kundigen sogar ermöglicht, den Sinn ohne den Umweg über den Wortbegriff
unmittelbar im Rhythmus zum Ausdruck zu bringen und aufzufassen, verliert