Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
EINFÜHRUNG

IX

im Sinne des östlichen Geistes. Da waren es aber nicht die alten Großstädte, die die
Überlieferung fortführten, mochten sie auch vor der islamischen Eroberung als Um-
schlagplatz dessen gedient haben, womit die zivilisatorische Leerheit desWestens
ausgefüllt wurde. Weder wurden sie zu Bewahrern unveränderten Kulturbesitzes
(wie die Klöster im Westen), noch übernahmen sie, dem Islam anheimgefallen,
die Rolle des Ausgleichs zwischen dem antiken Machtgedanken und östlicher
Geistigkeit. Diese Rolle fiel der neuen Hauptstadt Konstantinopel zu, die damit
zum Brennpunkt des neuen Weltbildes wurde. Denn die kulturelle Grenze der
Ost- und Westwelt, an der als ein Ausgleichsprodukt das Christentum entstanden
war, hatte sich weiter nach dem Westen verschoben, war im südlichen Mittel-
meer durch den Islam von der Jordanlinie über Ägypten bis nach dem westlichen
Afrika vorgetragen worden.
Im nördlichen Mittelmeer bildeten Armenien, wo eine parthische Zweig-
dynastie die iranische Tradition fortführte, und das kleinasiatische Hochland
die Brücke, auf der der christlich-iranische Geist bis an den Balkan vordrang,
um in Byzanz, auf die Fortführung des römischen Gedankens stoßend, jenem
eigentümlichen Nebeneinander von Extremen, wie Despotie und Volksherrschaft,
von religiöser Jenseitigkeit und luxuriös-sinnlichem Materialismus, von äußerem
Machtglanz und innerer Fäulnis auf einem indifferenten Boden den Schein einer
eigenen Kultur angedeihen zu lassen. Erst von diesem neuen Zentrum aus
konnte nun auch der Westen des Mittelmeeres zu einer erneuten inselhaften
Fruchtbarkeit im Sinne des Ostens gebracht werden, freilich nur, soweit die
Macht dieses Zentrums reichte. Deshalb ist es nun nicht mehr Rom, sondern
über den Balkan hinweg Norditalien, Ravenna, Mailand, die als Enklaven des
Ostens dem Christentum im Westen zu einem lokalen Glanz verhalfen. Später
ist es dann Venedig und die dalmatinische Küste, aber auch Sizilien und Süd-
italien, wo der byzantinische zugleich mit dem islamischen Osten auf abend-
ländischem Boden Geltung gewann. Aber auch nach dem Norden hin über-
nahm Byzanz eine neue Aufgabe. Wie im Westen die staatliche Konsolidierung
der nördlichen Völker dem Christentum Neuland bereitete, so hier die der
Slaven. Wie dort die römische Kirche zur Trägerin der Zivilisation wird, so
hier die orthodoxe. Damit hat aber hier wie dort das Christentum seine Auf-
gabe gewechselt: in frühchristlicher Zeit war es der Träger einer neuen, der
jugendlichen Geistigkeit östlicher Völker entspringenden Weltanschauung, die
an die Stelle einer alten Machtzivilisation trat, mit dem Mittelalter aber wurde
 
Annotationen