Deutung
soden, die die Übersichtlichkeit stark gefährden, werden hinzugefügt, u. a. die Wander-
schaft der gläubigen Seele an der Hand des Engels durch Hölle, Fegefeuer und Himmel.
In den beiden Moralitäten ist der Erdenlauf des menschlichen Pilgers nach zwei
getrennten Systemen gegliedert, die sich fast unabhängig von einander abwickeln.
Der Gedanke lag nahe, die beiden handelnden Personen — den Gerechten und den
Ungerechten — in einer einzigen Figur zu fassen; „Homo", der Mensch, erscheint von
den gaten und bösen Trieben seiner Seele hin und her gezerrt.
Die Idee findet ihre Verkörperung im L'Homme p^cheur, einem Opus von rund
22000 Versen, das 1494 in Tours aufgeführt wird, zahlreiche Wiederholungen erlebt
und mehrfach im Drucke erscheint. Die Moralität kennt nicht weniger wie 62 Haupt-
personen; die Aufführung nahm etwa 3 Tage in Anspruch. Homo wird von den
Lastern — wie üblich allegorische Frauengestalten — umgarnt, er geht mit sichtlichem
Vergnügen auf ihre Wünsche ein. Die Tugenden treten auf den Plan, sie suchen den
bösen Einfluß zu schwächen und wappnen Homo mit dem Panzer des Glaubens. Nach
vielfachem Hin und Her erkennt der Erdenpilger den rechten Weg, er geht in sich, weist
die auf ihn eindringenden Laster ab und erhält die göttliche Verzeihung. Seine be-
freite Seele geht ein zum himmlischen Reiche, sein entseelter Körper wird der Erde
zurückgegeben. Wieder finden wir den ganzen himmlischen Apparat mit der Drei-
einigkeit, der Justitia, die das Blut des Sünders wiU, und der aüerbarmenden Miseri-
cordia. Es führt zu weit, die vielfach verzweigten Quellen klar zu legen, die nur
mittelbar mit dem vorliegenden Thema in Verbindung stehen. Typisch für den
Homme P6scheur ist die seltsame Art der Namengebung der verschiedenen allegorischen
Figuren. Wir finden neben den bekannten Bezeichnungen: Frau Esperance de-longue-
vie sowie die Damen Cramte-de-faire-penitence, Desperation-de-pardon, Honte-de-dire-
ses-pechös.
Wandteppiche und Fragmente in beträchtlicher Zahl schildern in mehr oder weniger
starker Anlehnung an die erwähnten Quellen Homo's Erdenlauf.
Zu den prächtigsten Stücken dieser Art zählt der große Behang in der Kathedrale
zu Burgos. In den beiden unteren Ecken des Teppichs halten Propheten nach dem
durch die Mysterienspiele überlieferten Schema das kündende Schriftband. Die Drei-
einigkeit, Gott-Vater, Gott-Sohn und Gott-Heiliger-Geist, drei gleichaltrige Gestalten,
thront auf reich ausgestattetem Hochsitz; Engeischaaren umschweben die Thronbank.
Der Paradiesesprozeß beginnt. Justitia (Justice divine) mit dem entblößten Schwerte,
die Anklageschrift in der Hand, verlangt die Bestrafung des sündigen Menschen, Veritas
vertritt den gleichen Standpunkt; Misericordia mit dem Lilienzweige plädiert auf mil-
dernde Umstände, Pax spricht im gleichen Sinne.
Die nun folgenden Szenen schildern den Erdenlauf Homo's; die Episoden sind als
selbständige Gruppenbilder durchgeführt, die in den ersten Dezennien des 16. Säkulums
auch vielfach als Einzelteppiche (128) vorkommen.
Der Mensch erscheint; er bekümmert sich zunächst recht wenig um die im Tempel
des Glaubens versammelten Tugenden; Homo sucht seine Freuden in den Genüssen
des irdischen Seins. Justitia hält die Zeit für gekommen, dem sündigen Treiben ein
Ende zu bereiten. Sie greift Homo, der es sich in den Armen von Luxuria und ihrer
Gefährtinnen wohl sein läßt, mit gezücktem Schwerte an; Misericordia fällt ihr in den
Arm und bittet um Aufschub der StrafvoUstreckung (Abb. 89).
Der Mensch sieht seinen Untergang vor Augen, er weist die Laster von sich. Die
nun folgende Szene in der rechten unteren Hälfte des Teppichs ist von besonderem
Reize. Die Tugenden wappnen den sündigen Menschen mit dem Rüstzeug des Glaubens
und Gottvertrauens. Gratia-Dei überreicht dem verzweifelt die Hände ringenden Homo
den Brustpanzer, Pax den Turnierhelm; Misericordia ermahnt ihn, stark und treu zu
sein. Die Erwartung soll sich nicht erfüUen. Homo wirft die Rüstung von sich, die
Laster fallen über den Wehrlosen her, dem nur noch Spes hilfreich zur Seite steht.
Luxuria und Gula spielen ihm übel mit, Temptator, der schlimme Versucher, bläst
frohlockend Halali. Der Mensch sieht seine Sünden ein, bereut und stirbt. Die letzte
124
soden, die die Übersichtlichkeit stark gefährden, werden hinzugefügt, u. a. die Wander-
schaft der gläubigen Seele an der Hand des Engels durch Hölle, Fegefeuer und Himmel.
In den beiden Moralitäten ist der Erdenlauf des menschlichen Pilgers nach zwei
getrennten Systemen gegliedert, die sich fast unabhängig von einander abwickeln.
Der Gedanke lag nahe, die beiden handelnden Personen — den Gerechten und den
Ungerechten — in einer einzigen Figur zu fassen; „Homo", der Mensch, erscheint von
den gaten und bösen Trieben seiner Seele hin und her gezerrt.
Die Idee findet ihre Verkörperung im L'Homme p^cheur, einem Opus von rund
22000 Versen, das 1494 in Tours aufgeführt wird, zahlreiche Wiederholungen erlebt
und mehrfach im Drucke erscheint. Die Moralität kennt nicht weniger wie 62 Haupt-
personen; die Aufführung nahm etwa 3 Tage in Anspruch. Homo wird von den
Lastern — wie üblich allegorische Frauengestalten — umgarnt, er geht mit sichtlichem
Vergnügen auf ihre Wünsche ein. Die Tugenden treten auf den Plan, sie suchen den
bösen Einfluß zu schwächen und wappnen Homo mit dem Panzer des Glaubens. Nach
vielfachem Hin und Her erkennt der Erdenpilger den rechten Weg, er geht in sich, weist
die auf ihn eindringenden Laster ab und erhält die göttliche Verzeihung. Seine be-
freite Seele geht ein zum himmlischen Reiche, sein entseelter Körper wird der Erde
zurückgegeben. Wieder finden wir den ganzen himmlischen Apparat mit der Drei-
einigkeit, der Justitia, die das Blut des Sünders wiU, und der aüerbarmenden Miseri-
cordia. Es führt zu weit, die vielfach verzweigten Quellen klar zu legen, die nur
mittelbar mit dem vorliegenden Thema in Verbindung stehen. Typisch für den
Homme P6scheur ist die seltsame Art der Namengebung der verschiedenen allegorischen
Figuren. Wir finden neben den bekannten Bezeichnungen: Frau Esperance de-longue-
vie sowie die Damen Cramte-de-faire-penitence, Desperation-de-pardon, Honte-de-dire-
ses-pechös.
Wandteppiche und Fragmente in beträchtlicher Zahl schildern in mehr oder weniger
starker Anlehnung an die erwähnten Quellen Homo's Erdenlauf.
Zu den prächtigsten Stücken dieser Art zählt der große Behang in der Kathedrale
zu Burgos. In den beiden unteren Ecken des Teppichs halten Propheten nach dem
durch die Mysterienspiele überlieferten Schema das kündende Schriftband. Die Drei-
einigkeit, Gott-Vater, Gott-Sohn und Gott-Heiliger-Geist, drei gleichaltrige Gestalten,
thront auf reich ausgestattetem Hochsitz; Engeischaaren umschweben die Thronbank.
Der Paradiesesprozeß beginnt. Justitia (Justice divine) mit dem entblößten Schwerte,
die Anklageschrift in der Hand, verlangt die Bestrafung des sündigen Menschen, Veritas
vertritt den gleichen Standpunkt; Misericordia mit dem Lilienzweige plädiert auf mil-
dernde Umstände, Pax spricht im gleichen Sinne.
Die nun folgenden Szenen schildern den Erdenlauf Homo's; die Episoden sind als
selbständige Gruppenbilder durchgeführt, die in den ersten Dezennien des 16. Säkulums
auch vielfach als Einzelteppiche (128) vorkommen.
Der Mensch erscheint; er bekümmert sich zunächst recht wenig um die im Tempel
des Glaubens versammelten Tugenden; Homo sucht seine Freuden in den Genüssen
des irdischen Seins. Justitia hält die Zeit für gekommen, dem sündigen Treiben ein
Ende zu bereiten. Sie greift Homo, der es sich in den Armen von Luxuria und ihrer
Gefährtinnen wohl sein läßt, mit gezücktem Schwerte an; Misericordia fällt ihr in den
Arm und bittet um Aufschub der StrafvoUstreckung (Abb. 89).
Der Mensch sieht seinen Untergang vor Augen, er weist die Laster von sich. Die
nun folgende Szene in der rechten unteren Hälfte des Teppichs ist von besonderem
Reize. Die Tugenden wappnen den sündigen Menschen mit dem Rüstzeug des Glaubens
und Gottvertrauens. Gratia-Dei überreicht dem verzweifelt die Hände ringenden Homo
den Brustpanzer, Pax den Turnierhelm; Misericordia ermahnt ihn, stark und treu zu
sein. Die Erwartung soll sich nicht erfüUen. Homo wirft die Rüstung von sich, die
Laster fallen über den Wehrlosen her, dem nur noch Spes hilfreich zur Seite steht.
Luxuria und Gula spielen ihm übel mit, Temptator, der schlimme Versucher, bläst
frohlockend Halali. Der Mensch sieht seine Sünden ein, bereut und stirbt. Die letzte
124