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Göbel, Heinrich; Göbel, Heinrich [Hrsg.]
Wandteppiche (II. Teil, Band 1): Die romanischen Länder: Die Wandteppiche und ihre Manufakturen in Frankreich, Italien, Spanien und Portugal — Leipzig, 1928

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https://doi.org/10.11588/diglit.16360#0019
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Frankreich.

Paris.

Wie eine gewaltige Offenbarung, die Menschenseele aufwühlende Bedrängnis, alle
Schrecken des letzten Endes kündende Botschaft deckte einst die Apokalypse die weiten
Wände der Schloßkapelle zu Angers. Der Herr des vieltürmigen Kastells, der Mäch-
tigste nach dem Heimgang des Königs und Bruders (Karl V. von Frankreich, f 16. IX.
1380), der Reichsregent Ludwig, Herzog von Anjou, nennt die riesige Offenbarung des
Johannes sein Eigen. Gewirkten Miniaturen gleich umspannen die Teppiche den
Raum; der Fürst liest sein Livre d'Heures in monumentalstem Ausmaße. Die gewaltige
Gestalt des Jüngers lehnt in reich geschnitztem Gestühl, sinnend, fast gleichgültig, in
der Hand den geschlossenen Folianten der Verkündigung; hoch zu Roß trabt der Tod
vorüber an dem Tore der Verfluchten, der Höllenschlund zuckt rote Flammen über
schmerzverzerrte Gesichter, die vierundzwanzig Alten streuen ihre Kronen vor den in
der Mandorla auf vielfarbigem Bogen thronenden Herrn, das Lamm verspritzt sein
Blut, die Kreuzesfahne weht, mit ernsten verinnerlichten Gesichtern harren die Könige,
Johannes liegt hingesunken wie ein Toter zu Füßen des Heilandes, die Wundmale
schimmern gleich Sternen, die sieben Leuchter blaken auf hölzerner Bank. Gespenstig,
schreckend, drohend greifen die seltsamen Gestalten, die unmöglichen Begebenheiten
nach der Seele des Menschen; der Schein der Fackeln und Kerzen läßt die Verdammten
zum Leben erwachen, den Herrn der Welt zum Gericht schreiten. Die ins Unge-
messene gewachsenen Miniaturen verlieren alle Wirklichkeit. Meister Hennequins
Werk lebt in den Stunden abendlicher Vollendung ein glühendes, unheimliches Sein,
verblaßt am hellen Lichte des Tages.

Welche Rätsel der Seele Ludwig von Anjou zu den mystischen Gängen der Apoka-
lypse führten, ob der allzeit geldgierige, allzu ehrgeizige Fürst, der des verstorbenen
Königs Schatz auf Schloß Melun dem Mündel stahl, der Hochmut mit Gelehrsamkeit,
Tapferkeit mit Beredsamkeit und erheuchelt liebenswürdigem Wesen verband, dem
die Tiefen der Kunst Offenbarungen waren, eine Art innerer Einkehr hielt oder nur
dem grübelnden Geiste der Zeit seinen Tribut zollte, wird kaum zu entscheiden sein.

Hennequin von Brügge schuf die Vorlagen, Nikolaus Bataille, der Pariser Wirker und
Händler, übernahm die Durchführung.

Es ist viel gerätselt worden, welchem Manuskripte der Maler die Apokalypse ent-
lehnte, ob er ohne künstlerischen Gewinn kopierte, ob er der Offenbarung neues
Leben einhauchte, ob er im Geiste, nicht wörtlich, die dunklen Bilder chiliastisch-
parsisch-vorchristlicher Überlieferungen interpretierte. Ich habe bereits in der „Deutung"
des ersten Teiles meiner „Wandteppiche" die Frage berührt (1). Von einem tieferen
Erfassen ist bei Meister Hennequin ebensowenig die Rede, wie bei seinen zahlreichen
Nachfolgern bis hin zu den Tagen der van Orley, bis ins 17. und 18. Säkulum. Jedes
Geschehnis wird peinlich genau übertragen, gleichgültig, ob das Ergebnis kritisch ge-
schärftem Geiste sinnlos erscheinen will. Ehrfurcht vor den letzten, höchsten Dingen
verbannt jede freiheitliche Regung auf den Pranger der Gotteslästerung. Hennequin
erzählt wörtlich, allzu wörtlich.

Leopold Delisle uud P. Meyer haben in einem längeren, gewissenhaft durchgearbeiteten
Aufsatze versucht, die Handschrift zu ermitteln, die der König seinem Bruder lieh
«pour faire son beau tapis" (2). Das bislang als maßgebend angenommene Manuskript

\ Gobel, Wandteppiche II.

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