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ELFENBEINSKULPTUREN

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Aus der großen Anzahl von Elfenbeinreliefe des IX. und X. Jahr-
hunderts treten zunächst drei stilistische Gruppen deutlich und in
einer gewissen Einheitlichkeit hervor.

Die erste zeigt scharf und bestimmt gezeichnete Figuren in reich-
bewegten Faltenmotiven mit weiten großäugigen Kopftypen und
mit sparsamer, auf wenige Formen sich beschränkender Ornamen-
tik. Sie setzt ein mit Werken, die in Verbindung mit Karl dem
Großen stehen, und läßt sich seit etwa 70,0 über ihren Schwerpunkt
hinaus, der wohl in den ersten Dezennien des IX. Jahrhunderts liegt,
bis zu Ausläufern und Nachahmungen im X. Jahrhundert verfol-
gen. Es ist die Gruppe, deren Stil in der Miniaturmalerei eine
Parallele in der Adahandschrift und ihren Verwandten findet, und
die daher als Adagruppe bezeichnet werden kann.
In der Führung wird sie ungefähr in den 3oer oder 4oer Jahren
des IX. Jahrhunderts abgelöst durch einen neuen Stil von male-
rischem, frischer erzählendem, oft skizzenhaftem Charakter, der,
wie es scheint, an mehreren Stellen zugleich einsetzt. Er taucht
auf in Metz mit dem Sakramentar des Erzbischofs Drogo (826—855)
und einigen anderen Bucheinbänden und an einem zweiten Zentrum
mit einem vonLiuthard für Karl den Kahlen (842—869) geschrie-
benen Psalter, dessen Elfenbeinschnitzereien wegen ihres Anschlus-
ses an die Illustrationen des Utrechtpsalters auf Reims zurückge-
führt werden. Ob es sich wirklich um Reims handelt, ist sehr
zweifelhaft, und so wird man vorläufig die Werkstatt besser als
die des Liuthard bezeichnen. Während die Zahl der Metzer Stücke
dieser Zeit nur gering ist, sind der Liuthardgruppe eine ganze Reihe
von Arbeiten zuzuschreiben, vor allem bemerkt man, wie sich ihr
Stil fortsetzt, abschwächt und abwandelt bis ins X. Jahrhundert
hinein. Manche späteren Stücke nehmen auch von den anderen
Schulen Einflüsse auf, so daß man annehmen muß, daß diese Rich-
tung sich über eine breitere geographische Fläche ausbreitete.
Gegen das Ende des Jahrhunderts tritt dann aber Metz durchaus
in den Vordergrund mit einer jüngeren Gruppe, die in vieler Be-
ziehung auch an die Liuthardschule anknüpft und die eine weitere
Phase der Entwicklung repräsentiert. Das Malerische des Liuthard-
stiles und der frühen Metzer Stücke verliert sich wieder mehr zu-
gunsten einer zeichnerisch bestimmten, in den Umrissen ausge-
glichenen und abgeschwächten Darstellung, bei der die gleichmä-
ßige Füllung der Fläche und eine dekorative Wirkung angestrebt
werden. Das Blattornament macht sich am Rahmen stärker geltend,
nimmt aber auch bei manchen Stücken eine durchaus herrschende
Stelle in der Bildfläche ein. Zugleich tritt öfters eine schmückende
Bereicherung durch Einlagen von Goldblättchen und Glasflüssen
hinzu, wie sie sich auch bei späteren Stücken findet, die noch mit
der Liuthardgruppe zusammenhängen. Der Stil geht offenbar bald
über die Grenzen von Metz hinaus und zieht sich vor allem nach
Norden zur Maasgegend und zum Niederrhein hin bis weit ins
X. Jahrhundert hinein. So vertreten die Adagruppe, die Liuthard-
gruppe und die jüngere Metzer Gruppe offenbar nicht zufällig

nebeneinander an verschiedenen Orten auftretende Kunstschulen,
sondern drei aufeinanderfolgende herrschende Stile ungefähr aus
dem Anfang, der Mitte und dem Ende des IX. Jahrhunderts.
Neben diesen großen Schulen findet sich eine beträchtliche An-
zahl kleinerer Gruppen und Einzelstücke, die der einen oder andern
Richtung näher stehen, und deren Ursprungsort in den meisten
Fällen noch nicht zu bestimmen ist. Vereinzelte Stücke mögen in
Tours gefertigt sein oder in den frankosächsischen Klosterschulen,
vor allem aber scheint die dekorative Richtung, wie sie am Ende
des IX. Jahrhunderts hervortritt, verschiedene Klöster zu reicherer
Produktion angeregt zu haben, so die St. Gallener Sehlde, die in
den alemannischen Gegenden sicherlich nicht allein stand und auch
Fühlung mit der Lombardei besaß. So ferner in Belgien die Werk-
statt, aus der eine Anzahl von Arbeiten stammen, die mit den
Platten in der Kathedrale von Tournai zusammenhängen, vielleicht
in Tournai selbst. Bei all diesen Stücken spielt das Blatt- und
Rankenwerk eine große Rolle, man liebt es, besondere Feldereintei-
lungen zu schaffen und die Figuren auf einzelne dieser Abgrenzungen
zurückzudrängen. Tiere dienen zur Belebung des Randes und der
Bildfläche, ornamental verwandte Inschriften sind nichts Seltenes.
Während das Blattwerk hier häufig eine besonders enge Anleh-
nung an antike Vorbilder zeigt, ist das Figürliche den älteren ka-
rolingischen Schulen gegenüber sehr in der Durchführung zu-
rückgetreten. Nur eine Gruppe von Schnitzereien, von denen
einige sich auf den Bamberger Domschatz Heinrichs II. zurück-
führen lassen, die aber doch wohl älteren Datums sind, legen einen
großen Wert auf die lebendige und schöngestaltene Erscheinung
der menschlichen Figur, ebenso wie eine Anzahl mit dieser Schule
in Zusammenhang stehender Sakramentarplatten. Doch auch bei
ihnen ist das dekorative Element maßgebend. Bei all den genannten
Werken ist aber die Kontinuität mit dem IX. Jahrhundert noch
deutlich vorhanden, während im letzten Drittel des X. Jahrhunderts
neue Richtungen auftauchen, neue Vorbilder nachgeahmt werden
und die Erzeugnisse häufig nur in lockerem Zusammenhang mit
den älteren stehen. Diese Gruppen sind dem zweiten Band der
Publikation vorbehalten. Im vorliegenden Bande sind zunächst
die drei genannten HauptgTuppen in möglichst geschlossenem Zu-
sammenhang gegeben und durch einleitende Kapitel genauer cha-
rakterisiert, dann folgen die übrigen kleinen Gruppen und Einzel-
stücke in zwangloserer Anordnung, die schon deshalb keinem
ganz festen Prinzip gehorchen konnte, da die genaue Zeitbestim-
mung vielfach noch nicht festzulegen war.

Als zeitliche Grenze rückwärts ist das VIII. Jahrhundert angenom-
men, örtlich sind nur diejenigen Stücke ausgeschieden, die in den
Bereich der orientalischen und byzantinischen Kunst gehören.
Werke, bei denen der Verdacht der Fälschung vorliegt, sind nur
dann publiziert worden, wenn die Diskussion über die Echtheit
noch nicht geschlossen ist, oder wenn sie zur Aufklärung über
echte Stücke von Bedeutung sind.

Abb.
 
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