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ELFENBEINSKULPTUREN

S. 285, Anm. — Swarzenski, Die Regensburger Buchmalerei im X. und XI. Jahr-
hundert, 1901, S. 5ij Anm. —

4- PLATTE. TAFEL IV

Christus im Tempel lehrend.

A? 962— 9y3. Mailand oder Reichenau (?).

Berlin, Königl. Bibliothek.

Höhe 1 2,7 cm, Breite 11,7 cm.

Erhaltung gut. Befindet sich mit Nr. 10, i4, '5 zusammen auf der Vorder-
seite des Einbandes des Evangeliars theol. lat. fol. 1. Kat. Rose Nr. 265, das der
Fuldaer Schreibschule des X. Jahrhunderts angehört (vgl. E. H. Zimmermann
im Jahrbuch der K. K. Zentralkommission N. F., IV, 19 10, S. 58 ff) und das im
17. Jahrhundert (Rauescher Kat. v. 1668, Berlin M. Catal. A. 465 fol.) in die
Berliner Bibliothek aus Herford gelangt ist. Der Kodex soll sich vordem in der
Grabkirche Wittekinds in Enger befunden haben, woherer den Namen, ,Wittechin-
deus" trägt. In bezugaufden Zeitpunkt, an dem die Elfenbeintafeln, die ursprüng-
lich sicherlich nicht für einen Bucheinband gearbeitet sind, sondern zu einer großen
zusammenhängenden Reliefserie gehören, mit dem Kodex verbunden sind, lassen
sich folgende Vermutungen aufstellen. Der jetzige Einband ist bis auf die Elfen-
beinreliefs modern; vermutlich ist er 1818 angefertigt, als die Handschriften
„geordnet, zum Teil neu gebunden, mit Nummern bezeichnet wurden". Wil-
ken (Geschichte der Königlichen Bibliothek zu Berlin 1828, S. 164) sieht schon
den neuen Einband. Wie sollte man darauf gekommen sein, die Elfenbein-
platten, und zwar recht unorganischerweise, darauf zu befestigen, wenn sie
nicht schon auf dem alten Einband gesessen hätten; und daß auf diesem Elfen-
beinschnitzereien sich befanden, besagen die ausführlichen Beschreibungen,
die uns von ihm aus dem 18. Jahrhundert erhalten sind (I. C. C. Olrichs, Ent-
wurf einer Geschichte der Königl. Bibliothek zu Berlin 1752, S. 56. — Friedr.
v. Stosch, Ms. Catal. H. 468 90 ca. 1780-94 Bd. I, Nr. 68). Ölrich sagt: „Der
obere Deckel dieser Handschrift ist mit vielen Figuren, die teils aus massivem
Golde, teils aus Helfenbeine bestehen, versehen etc. etc." Im übrigen ist
v. Stosch noch ausführlicher: „Ligaturaest librorum Elephantinorumgemmis varie
effigiatis et lapillis pluribus in auro et argento ornata. In tabula argentea inaurata
praeter imagines SS. Ioannis Dionysii Pauli Petri Kiliani Blasii et Mariae incisa
est imago S. Mauritii et alia figura (sine dubio Engelhardi) ad eius genua pro-
cumbens, ad cuius pedes supra inscriptum S. Mauricius, a latere legitur Engil-
hardus Archiepiscopus me fieri iussit. Engilhardus sine dubio Fpiscopus Magde-
burgensis See. XI., ad ([uem forte hie codex pervenerat et qui cum pretiosis-
sima hac ligatura ornaverit."

Daß mit dem Engilhardus Archiepiscopus der Magdeburger Erzbischof (io52 bis
IOÖ3) gemeint ist, wird zur äußersten Wahrscheinlichkeit durch die Heiligen,
die auf der Metallplatte eingeschnitten waren. Der in der Beschreibung als
Hauptfigur hervorgehobene Heilige, vor dem der Geistliche kniet, dem also
die Handschrift gewidmet war, ist S. Mauritius, der Schutzheilige des Magde-
burger Domes, und die als Nebenfiguren zuerst genannten S. Johannes und
S. Dionysius sind die Patrone des Klosters Berge bei Magdeburg, das Otto 965
für die Mönche des Mauritiusklosters erbaute, S. Dionysius außerdem auch von
der Abtei zu Engern, die Otto ebenfalls an Magdeburg schenkte. Wegen dieser
Beziehungen wäre es auch nicht auffallend, wenn die Handschrift in späterer
Zeit von Magdeburg nach Engern gekommen wäre, von wo sie dann über Her-
ford nach Berlin gelangte. Wenn nun der Erzbischof Engilhard bei seinem
neuen Einband vier aus einem anderen größeren Zusammenhang ihm zur
Verfügung stehende Elfenbeinreliefs benutzte, so ist mit der Möglichkeit zu
rechnen, daß das Werk, dessen Bestandteile sie gebildet hatten, sich in Magde-
burg befunden habe. Hierzu stimmt die Analyse der ebenfalls ursprünglich zu
dem Werke gehörigen Platte Nr. 16 (vgl. den Text dort), nach der es sich
wahrscheinlicb um eine Stiftung des Kaisers Otto I. an seine dem hl. Mauritius
geweihte Kirche in Magdeburg handelt, also um ein Werk, das zwischen 962
(Kaiserkrönung) und 973 (Tod des Kaisers) entstanden sein muß. Es sind uns
i3 zusammengehörige Platten erhalten (Nr. 4—16), die alle einen breiten, ganz
glatten Rand und ein annähernd quadratisches Format zeigen. Beide Umstände
stehen unter den abendländischen Elfenbeinschnitzereien ganz vereinzelt da
(abgesehen von einzelnen Kurzseiten von Reliquienkästen), es kann sich daher
nicht um die üblichen Bucheinbände handeln. Ferner ist zwar der Rand nicht
überall gleich groß, auch nicht bei den Stücken, bei denen er nicht beschnitten
ist; doch hat das eigentliche Bildfeld immer die gleiche Höhe, was darauf
schließen läßt, daß der Rand bedeckt war und nur das Bild zur Wirkung kam.
Dies trifft bei den Schmucktafeln der Altäre zu, wie z. B. dem Antependium
im Aachener Dom aus dein Anfang des XI. Jahrhunderts, hei dem die kleinen
vergoldeten Relieffelder von Emailstreifen eingefaßt und getrennt sind. Eine
gleiche Disposition zeigt auch der Altarschmuck auf der liturgischen Darstellung
der großen Elfenbeinplatte in der Frankfurter Stadtbibliothek (Band I Tafel LIII
Nr. 121) und ein vollständig aus Elfenbeinreliefs zusammengesetztes Antependium
aus etwas jüngerer Zeit in Salerno sowie verstreute Reste eines zweiten aus gleicher
Gegend in verschiedenen Sammlungen liefern den Beweis der Existenz von
Elfenbeinantependien. Wie diese ganz unter ägyptischem Einfluß stehenden
Beispiele es nahelegen, stammt die Verwendung des Elfenbeins zu derartigem
Schmuck vom Orient her, und das Werk, das Kaiser Otto anfertigen ließ, mag
eben auf der Grundlage byzantinischer Einflüsse entstanden sein. Dem Um-
stände, daß die Anzahl der Platten zur Füllung einer ganzen Altarwand oder
eines Altaraufsatzes bedeutend größer gewesen sein muß, widerspricht nicht
der erhaltene Bestand; denn dieser ist äußerst lückenhaft, zeigt Szenen wie die
wunderbare Speisung der Menge (Matth. XV) in zwei aufeinander folgenden
Momenten (Nr. 9 und I o), was auf eine sehr ins einzelne gehende Reihe deutet; da-
gegen fehlen sehr viele der wichtigsten Wunder- und Lehrdarstellungen ganz.

Angenommen aber, die Platten hätten zu einer von Otto I. nach Magdeburg
geschenkten Altartafel gehört, so mußte diese schon sehr bald wieder zerstört
worden sein, wenn Erzbischof Engelhard in der Mitte des XI. Jahrhundert be-
reits Bestandteile für seinen Bucheinband verwandte. Von einer Gelegenheit,
bei der dies im Dom geschehen sein könnte, ist allerdings außer Bränden um
1008 und 1049 nichts überliefert. Was nun die einzelnen Platten anbetrifft,
so haben sie nach der Auflösung des Werkes jedenfalls ein verschiedenes
Schicksal gehabt. Während die 4 in dein Deckel der Berliner Handschrift ein-
gelassenen Reliefs einen ganz unversehrten Band zeigen, weisen 6 andere Stücke
große Bohrlöcher an den vier Ecken auf (Nr. 5, 6, 8, 9, 11, 12) und um die-
selben herum zuweilen die Spuren runder Knöpfe oder Beschläge (Nr. 5 und 8)
oder grünlicher Färbung von Metallfassung an den Seiten (Nr. 8 und 11).
Vielleicht haben sie als Wände eines Beliquiars Verwendung gefunden, drei
von ihnen (Nr. 8, 9, 11) lassen sich auf die Sammlung Possenti in Fabriano
zurückführen. Bei den letzten drei Platten (Nr. 7, I 3, 16) ist der Rand verschie-
den stark beschnitten.

Im Tempel, einem Gebäude mit sonderbar durchgezogenem Vor-
hang, thront der jugendlich unbärtige Christus mit aufgeschlage-
nem Buch, und Joseph und Maria treten herein: jener mit erhobener
Hand, diese in Betrübnis den Kopf stützend nach den Worten des
Evang. Luc. II v. 48 „Fili, quid fecisti nobis sie? ecce pater tuus
et ego dolentes quaerebamus te." Die Anfangsbuchstaben sind mit
einigen Fehlern in Majuskelschrift in das Buch eingetragen: FILI
1QU1FECISSTINO, wobei die Verdoppelung des S allerdings Hin-
durch einen Hinweis auf die zweite Seite entstanden sein wird.
Immerhin machen die anderen Unrichtigkeiten und der Umstand,
daß die Worte als nicht von Christus ausgehend gar nicht in sein
Buch gehören, es zweifelhalt, ob die Schrift schon der ursprüng-
lichen Herstellung zukommt. Im Hintergrund erscheinen noch zwei
Männer. Der Grund ist innerhalb des Gebäudes glatt, außerhalb
desselben durch ausgeschnittene Kreuze, die von einer eingravier-
ten Linie umzogen sind, gemustert. Der ca. i1/a (;m breite Band
ist glatt.

Die zeichnerische Vorlage zu dieser und allen dazugehörigen Dar-
stellungen scheint durchaus von derselben Hand, dagegen weist
die Ausführung auf verschieden fein geschulte Schnitzer, die aller-
dings derselben Werkstatt angehörten. Während alle Bildfelder
die gleiche Höhe von ca. 9,5 cm besitzen, ist die Breite bei den
meisten ca. 8,7 cm, bei einigen (Nr. 4, 6, 9, i4) dagegen ca. 9,3 cm,
und diese letzteren sind zugleich die am sorgfältigsten ausgeführten
Reliefs, sie zeigen mehr Einzelheiten in der Gewandfältelung und
etwas schlankere Proportionen. Demgegenüber sind die Stücke
.Nr. 8, 11, 12 am flachsten und schematischsten, mit verhältnis-
mäßig großen Köpfen. Die übrigen liegen dazwischen, stehen aber
der ersten Gruppe näher. Drei der Reliefs auf dem Berliner Buch-
deckel und dasjenige in Compiegne (Nr. 7) zeigen eingeritzte In-
schriften, die sich auf den Inhalt beziehen. Sie sehen unsicher aus
und sind zum Teil nicht korrekt, so daß sie nicht dem Schnitzer
selbst anzugehören scheinen; dagegen aber, daß sie erst auf dem
Berliner Buchdeckel hinzugefügt sind, spricht das davon unab-
hängige Stück in Compiegne, dessen Buchstaben auf die gleiche
Hand deuten. Eine Gemeinsamkeit sämtlicher Reliefs ist die
Durchbrechung des Grundes durch ein Ornament oder durch voll-
ständiges Herausschneiden zwischen den Gegenständen. Hinter den
Platten lag offenbar Goldblech, welches hindurchschimmerte.
Was den Figurenstil anbetrifft, so zeigt er sehr vereinfachte For-
men. Die Köpfe werden möglichst ins Profil gestellt, und es wie-
derholt sich beständig die gleiche kleine Anzahl von Typen, die
sich nur durch die schachbrettartig geteilten Locken oder das fein
parallel gestrichelte Haar, durch Bartlosigkeit oder langen Spitz-
bart voneinander unterscheiden. Die Hände sind steif mit fest an-
einanderliegenden Fingern, die Füße lang und flach im Profil oder
ganz verkürzt. Die Gewandung teilt sich in große glatte Flächen
mit mehr oder minder dicht hineingeritzten Parallellinien und in
quer überschneidende oder an den Seiten herabhängende zusam-
mengeschobene Faltensträhnen. Die Gesichtszüge sind starr, die
Pupillen stets eingebohrt. Die Motive der Handlung sind deut-
lich und mit einer gewissen Lapidarität ausgesprochen, die Kom-
position ist übersichtlich und von künstlerischem Gleichge-
wicht.
 
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