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7.
Die Lehre von der barbarischen Gotik, einst ein Lieblings-
kind der romanischen Kunstliteratur, musste in dem Augenblick
sterben, wo man in der Gotik nicht mehr etwas Fremdes, sondern
ein Stück der Vergangenheit des eigenen Volkes erblickte. Das
geschah aber in der deutschen wie in der französischen Romantik.
W. Wackenroders „Herzensergiessungen eines kunstliebenden
Klosterbruders“ (1797) zeigen schon deutlich die beiden Seiten
der romantischen Kunsttheorie: die Betonung des Vaterländischen
und die Sehnsucht zurück in die deutsche Vergangenheit. Jetzt
hiess es nicht mehr, wie bei dem Franzosenschüler Gotter: „ein
Denkmal, barbarisch ausgeschnitzt.“ Im „Ehrengedächtnis unseres
ehrwürdigen Ahnherrn Albrecht Dürers“ sprach Wackenroder viel-
mehr aus, was nach ihm die Tieck, und Schlegel, Brentano und
Boisseree immer wiederholt haben: „Nicht bloss unter italienischem
Himmel, unter majestätischen Kuppeln und korinthischen Säulen;
— auch unter Spitzgewölben, kraus-verzierten Gebäuden und
gotischen Türmen, wächst wahre Kunst hervor.“ — Auch in
Frankreich erweckte die romantische Literatur — freilich später
als die deutsche — den Sinn für die grosse einheimische Kunst
der Vergangenheit, für die einst verhöhnte Gotik.
Nun werden die Kathedralen Frankreichs, an denen sich noch
die Revolution aufs schwerste versündigt hatte, der Stolz des
Landes. Die Bewegung gipfelte in Victor Hugos „Notre Dame
de Paris“ (1831), sie ergriff aber nicht nur die Dichter und Hi-
storiker, sondern stand auch in engster Verbindung mit Bestre-
bungen zur Wiederherstellung der mittelalterlichen Baudenkmäler.
In Frankreich gibt es seit 1837 eine staatlich organisierte Denkmal-
pflege. Viollet-le-Duc war nicht nur der Schriftsteller der Gotik,
sondern auch der Restaurator von Notre Dame und Sainte Chapelle
in Paris. Aus der Schule der Wiederhersteller alter Gotik gingen
schliesslich die Neugotiker hervor, deren Werke ja vor aller Augen
stehen.
8.
Die kunstgeschichtliche Barbarentheorie war ein für allemal
erledigt, die politische aber scheint unsterblich zu sein. Jede der
grossen deutschen Erhebungen: 1813, 1870, 1914 lässt sie und
mit ihr dieselben Phrasen bei unsern Nachbarn wieder lebendig
7.
Die Lehre von der barbarischen Gotik, einst ein Lieblings-
kind der romanischen Kunstliteratur, musste in dem Augenblick
sterben, wo man in der Gotik nicht mehr etwas Fremdes, sondern
ein Stück der Vergangenheit des eigenen Volkes erblickte. Das
geschah aber in der deutschen wie in der französischen Romantik.
W. Wackenroders „Herzensergiessungen eines kunstliebenden
Klosterbruders“ (1797) zeigen schon deutlich die beiden Seiten
der romantischen Kunsttheorie: die Betonung des Vaterländischen
und die Sehnsucht zurück in die deutsche Vergangenheit. Jetzt
hiess es nicht mehr, wie bei dem Franzosenschüler Gotter: „ein
Denkmal, barbarisch ausgeschnitzt.“ Im „Ehrengedächtnis unseres
ehrwürdigen Ahnherrn Albrecht Dürers“ sprach Wackenroder viel-
mehr aus, was nach ihm die Tieck, und Schlegel, Brentano und
Boisseree immer wiederholt haben: „Nicht bloss unter italienischem
Himmel, unter majestätischen Kuppeln und korinthischen Säulen;
— auch unter Spitzgewölben, kraus-verzierten Gebäuden und
gotischen Türmen, wächst wahre Kunst hervor.“ — Auch in
Frankreich erweckte die romantische Literatur — freilich später
als die deutsche — den Sinn für die grosse einheimische Kunst
der Vergangenheit, für die einst verhöhnte Gotik.
Nun werden die Kathedralen Frankreichs, an denen sich noch
die Revolution aufs schwerste versündigt hatte, der Stolz des
Landes. Die Bewegung gipfelte in Victor Hugos „Notre Dame
de Paris“ (1831), sie ergriff aber nicht nur die Dichter und Hi-
storiker, sondern stand auch in engster Verbindung mit Bestre-
bungen zur Wiederherstellung der mittelalterlichen Baudenkmäler.
In Frankreich gibt es seit 1837 eine staatlich organisierte Denkmal-
pflege. Viollet-le-Duc war nicht nur der Schriftsteller der Gotik,
sondern auch der Restaurator von Notre Dame und Sainte Chapelle
in Paris. Aus der Schule der Wiederhersteller alter Gotik gingen
schliesslich die Neugotiker hervor, deren Werke ja vor aller Augen
stehen.
8.
Die kunstgeschichtliche Barbarentheorie war ein für allemal
erledigt, die politische aber scheint unsterblich zu sein. Jede der
grossen deutschen Erhebungen: 1813, 1870, 1914 lässt sie und
mit ihr dieselben Phrasen bei unsern Nachbarn wieder lebendig