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Grautoff, Otto
Die Maske und das Gesicht Frankreichs: in Denken, Kunst und Dichtung — Stuttgart, Gotha: Verlag Friedrich Andreas Perthes A.-G., 1923

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https://doi.org/10.11588/diglit.53148#0156
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ROMANTIK UND KLASSIZISMUS
IN DEN BILDENDEN KÜNSTEN

Dem Antagonismus zwischen Shakespeare und Racine in den
Kreisen französischer Gelehrter und Schriftsteller entspricht
unter den bildenden Künstlern die Gegenüberstellung von
Michelangelo und Raffael, Rubens und Poussin, oder, um gleich in
die Neuzeit zu greifen, Delacroix und Ingres.
Jedermann versteht, daß es sich also auch hier um einen Kampf
zwischen dem romantischen und dem klassizistischen Prinzip handelt,
und jedermann weiß, daß von 1880—1910 die romantische Tendenz
durch die Impressionisten das Übergewicht hatte. Das entspricht zeit-
lich dem romantischen Übergewicht in der Literatur. Würde man
die Kunstströmungen und die theoretischen Erörterungen der Künstler
bis in letzte Einzelheiten verfolgen, so würde sich eine absolute
Kongruenz ergeben.
Der Rolle Andre Gides in der Literatur entspricht die Rolle von
Maurice Denis in der bildenden Kunst. „II est bon“, schrieb Gustave
Coquiot, „que, de temps en temps, un peintre comme M. Maurice
Denis nous rappelle ä la sagesse.“ Sagesse ist das zutreffendste
Epitheton für diesen etwas dürftigen Maler, aber klugen und weit-
blickenden Theoretiker des Neuklassizismus. Aus seiner Freund-
schaft und dem Gedankenaustausch mit den gleichaltrigen Schrift-
stellern und Moralisten Andre Gide, Peladan und Adrien Mithouard
entwickelte sich eine für einen Maler ungewöhnlich fruchtbare lite-
rarische Betätigung. Seine ersten, kunsttheoretischen Betrachtungen
veröffentlichte er als Zwanzigjähriger 1890 für die von Lugne-Poe
herausgegebene Zeitschrift: Art et Critique unter dem damals höchst
befremdenden, rückläufig erscheinenden Titel: Definition du tradi-
tionisme. Er lehnte die Forderung der Zeit: La nature vue ä travers
un temperament ab und trat auch im Namen einiger Kameraden aus
der Ecole des Beaux-Arts für die klassischen Meister und für Paul
Gauguin ein. 1896 schrieb er für den Spectateur catholique einen

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