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meisterhafte Ausübung jeder einzelnen Kunst des Einflusses aller
Künste bedürfe. Wir sahen, wie bei Phidias den Versen Homer's
die Jdee des Zeus entsprang, wir sahen, wie der Einfluß anüker
Skulptur Raphael's Madonna mit hervorrief; wir gewahren,
wie die Blüthe der italienischen Malerei und Skulptur eng zu-
sammenhing mit dem Studium der Dichter, besonders Dante's;
während auf der andern Seite osfenbar ist, daß wo Dichter oder
bildende Künstler sich, als müßten sie fremden beirrenden Ein-
fluß von ihren Werken fern halten, auf ihr eigenes Gebiet zu-
rückziehen, ihre Werke darunter leiden.
Weil Goethe vor kaum vierzig Jahren gestorben ist und
weil der Einfluß ein zu bedeutender war, den er auf unsere
Epoche als alter Mann ausgeübt hat, so pflegt nicht immer be-
dacht zu werden, daß Goethe's Jugendzeiten, in denen er die
entscheidenden Eindrücke empfing und am kräftigsten gestaltete,
einer Epoche angehören, die von der unsrigen ganz verschieden
war. Tas Wesen dieser für uns vergangenen Zeit müssen wir
im Auge haben, um uns darüber klar zu werden, wie Goethe
in seiner wichtigsten Lebenszeit den Erscheinungen sich gegen-
überstellte.
Es handelt sich um die zwischen Reformation und fran-
zösischer Revolution zwischeninne liegenden Jahrhunderte, wclche,
als Ganzes genommen, in der Geschichte des menschlichen Fort-
schrittes eine feste Masse bilden. Das innere Leben dieser beiden
Jahrhunderte war so gut wie erschöpft als Goethe jung eintrat.
Ein Trang erfüllte die Menschheit, aus den 200 Jahre lang
getragenen Formen herauszutreten, sich neu zu konstituiren, sich
aus frisch umgegrabenem Boden in neuen Trieben verjüngt zu
sehen. Zugleich aber waren die Jahre noch nicht gekommen,
wo für solche Wünsche eine praktische Lösung möglich schien.
Und deßhalb, wenn in Goethe's Jugendtagen von Tichtern und
Denkern aus dieser Sehnsucht heraus neue Reiche konstruirt
wurden, für idcale Bewohner, so konnten zur Verkörperung
meisterhafte Ausübung jeder einzelnen Kunst des Einflusses aller
Künste bedürfe. Wir sahen, wie bei Phidias den Versen Homer's
die Jdee des Zeus entsprang, wir sahen, wie der Einfluß anüker
Skulptur Raphael's Madonna mit hervorrief; wir gewahren,
wie die Blüthe der italienischen Malerei und Skulptur eng zu-
sammenhing mit dem Studium der Dichter, besonders Dante's;
während auf der andern Seite osfenbar ist, daß wo Dichter oder
bildende Künstler sich, als müßten sie fremden beirrenden Ein-
fluß von ihren Werken fern halten, auf ihr eigenes Gebiet zu-
rückziehen, ihre Werke darunter leiden.
Weil Goethe vor kaum vierzig Jahren gestorben ist und
weil der Einfluß ein zu bedeutender war, den er auf unsere
Epoche als alter Mann ausgeübt hat, so pflegt nicht immer be-
dacht zu werden, daß Goethe's Jugendzeiten, in denen er die
entscheidenden Eindrücke empfing und am kräftigsten gestaltete,
einer Epoche angehören, die von der unsrigen ganz verschieden
war. Tas Wesen dieser für uns vergangenen Zeit müssen wir
im Auge haben, um uns darüber klar zu werden, wie Goethe
in seiner wichtigsten Lebenszeit den Erscheinungen sich gegen-
überstellte.
Es handelt sich um die zwischen Reformation und fran-
zösischer Revolution zwischeninne liegenden Jahrhunderte, wclche,
als Ganzes genommen, in der Geschichte des menschlichen Fort-
schrittes eine feste Masse bilden. Das innere Leben dieser beiden
Jahrhunderte war so gut wie erschöpft als Goethe jung eintrat.
Ein Trang erfüllte die Menschheit, aus den 200 Jahre lang
getragenen Formen herauszutreten, sich neu zu konstituiren, sich
aus frisch umgegrabenem Boden in neuen Trieben verjüngt zu
sehen. Zugleich aber waren die Jahre noch nicht gekommen,
wo für solche Wünsche eine praktische Lösung möglich schien.
Und deßhalb, wenn in Goethe's Jugendtagen von Tichtern und
Denkern aus dieser Sehnsucht heraus neue Reiche konstruirt
wurden, für idcale Bewohner, so konnten zur Verkörperung