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zurück. Weder bei Orest noch bei Pylades und Iphigenie
finden innere Kämpfe statt; Orest's Bedrängung durch die
Furien äußert sich, wie beim rasenden Aias des Sophokles,
in periodischen Anfällen blinden, zerstörenden Wahnsinnes.
Goethe's Aufbau seines Dramas auf geistigen Conflicten
höchster Art wäre dem griechischen Dichter, soweit seine übrigen
erhaltenen Werke eine abschließende Folgerung erlauben, nicht
möglich gewesen. Euripides bringt äußerlich spannende Mo-
mente, nicht aber innere geistige Entscheidungen auf die Bühne.
Wohl aber wäre Sophokles fähig gewesen, in Goethe's
Geiste eine Iphigenie zu dichten. Nur siebeu von seinen mehr
als hundert Werken sind ja erhalten geblieben. Unter den
verlorenen finden wir — ich wiederhole es nochmals — auch
eine Iphigenie genannt, von der aber nur ein einziger Vers
erhalten ist, eine zu raschem Handeln treibende allgemeine
Sentenz enthaltend, die unter den Gründen, mit denen Pylades
die zaudernde Iphigenie zur Entschlossenheit anruft, auch Goethe
hätte aussprechen können.
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„Zauderndes Nichthandeln bringt keine edle That hervor."
Aber daß Sophokles den Widerstreit in Iphigeniens Busen,
als es in ihrem Entschlüsse lag, ob der Bruder von ihr selbst
hingeschlachtet oder der König, ein edler Mann, dem sie ihr
Leben verdankte, von ihr hintergangen werden solle, wohl zu
fühlen und dichterisch zu gestalten fähig gewesen wäre, das
zeigt seine Tragödie Philoktet, in der Achill's Sohn Neoptolem
in ähnlicher Lage dasteht und in der dessen angeborenes edles
Denken und Empfinden den günstigen Ausgang herbeiführt.
Ich bin nicht der Erste, dem die Verwandtschaft der sittlichen
Probleme bei Iphigenie Thoas gegenüber und bei Neoptolem
zurück. Weder bei Orest noch bei Pylades und Iphigenie
finden innere Kämpfe statt; Orest's Bedrängung durch die
Furien äußert sich, wie beim rasenden Aias des Sophokles,
in periodischen Anfällen blinden, zerstörenden Wahnsinnes.
Goethe's Aufbau seines Dramas auf geistigen Conflicten
höchster Art wäre dem griechischen Dichter, soweit seine übrigen
erhaltenen Werke eine abschließende Folgerung erlauben, nicht
möglich gewesen. Euripides bringt äußerlich spannende Mo-
mente, nicht aber innere geistige Entscheidungen auf die Bühne.
Wohl aber wäre Sophokles fähig gewesen, in Goethe's
Geiste eine Iphigenie zu dichten. Nur siebeu von seinen mehr
als hundert Werken sind ja erhalten geblieben. Unter den
verlorenen finden wir — ich wiederhole es nochmals — auch
eine Iphigenie genannt, von der aber nur ein einziger Vers
erhalten ist, eine zu raschem Handeln treibende allgemeine
Sentenz enthaltend, die unter den Gründen, mit denen Pylades
die zaudernde Iphigenie zur Entschlossenheit anruft, auch Goethe
hätte aussprechen können.
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„Zauderndes Nichthandeln bringt keine edle That hervor."
Aber daß Sophokles den Widerstreit in Iphigeniens Busen,
als es in ihrem Entschlüsse lag, ob der Bruder von ihr selbst
hingeschlachtet oder der König, ein edler Mann, dem sie ihr
Leben verdankte, von ihr hintergangen werden solle, wohl zu
fühlen und dichterisch zu gestalten fähig gewesen wäre, das
zeigt seine Tragödie Philoktet, in der Achill's Sohn Neoptolem
in ähnlicher Lage dasteht und in der dessen angeborenes edles
Denken und Empfinden den günstigen Ausgang herbeiführt.
Ich bin nicht der Erste, dem die Verwandtschaft der sittlichen
Probleme bei Iphigenie Thoas gegenüber und bei Neoptolem