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weit noch, als er in und für uns heute fortlebt, und der
„junge Goethe" insoweit, als er den „alten Goethe" ver-
ständlich macht. Es muß in der geistigen Weltatmosphäre sich
etwas verändert haben, daß die früheren Jahrhunderte heute
zu verblassen beginnen. Was nicht lebt und sich bewegt, ist
todt. In Ada Negri's und Johanna Ambrosius' Existenzen
erblicke ich Verkörperungen historischer Elemente, die einer
Abmessung und Formulirung bedürfen. Daß sie so einsam
aufwuchsen. Daß sie niedrigen Standes sind. Daß sie eine
so reine Sprache reden. Daß sie arme Frauen sind. Daß sie
die nicht hassen, denen ein günstigeres Loos zu Theil wird.
Eins der letzten Gedichte Johanna's (Januar 1895)
heißt:
Mein letztes Lied.
Ein Lied macht' ich ersinnen.
Ein wundersames Lied,
Das gleich dem duft'gen Maienwind
Die ganze Welt durchzieht.
Von Nord nach Süd, von West nach Ost
Brach' es sich Bahn im Nu,
Und gab der ganzen Menschheit Trost,
Glück, Frieden, Heil und Ruh'.
Den Sterbenden, den Kranken
Soll's süße Labung sein.
Bei seinem sanften Flügelschlag
Verstumme Schmerz und Pein.
Bei Waffenklang, bei heißem Streit
Flamm' es empor den Muth,
Und alles unverstandne Leid
Mach' seine Stimme gut.
Doch wo die Sünde lauert
Mit blut'gem Schlangenblick,
Da werd's zum brausenden Orkan,
Treib' sie ins Meer zurück.
weit noch, als er in und für uns heute fortlebt, und der
„junge Goethe" insoweit, als er den „alten Goethe" ver-
ständlich macht. Es muß in der geistigen Weltatmosphäre sich
etwas verändert haben, daß die früheren Jahrhunderte heute
zu verblassen beginnen. Was nicht lebt und sich bewegt, ist
todt. In Ada Negri's und Johanna Ambrosius' Existenzen
erblicke ich Verkörperungen historischer Elemente, die einer
Abmessung und Formulirung bedürfen. Daß sie so einsam
aufwuchsen. Daß sie niedrigen Standes sind. Daß sie eine
so reine Sprache reden. Daß sie arme Frauen sind. Daß sie
die nicht hassen, denen ein günstigeres Loos zu Theil wird.
Eins der letzten Gedichte Johanna's (Januar 1895)
heißt:
Mein letztes Lied.
Ein Lied macht' ich ersinnen.
Ein wundersames Lied,
Das gleich dem duft'gen Maienwind
Die ganze Welt durchzieht.
Von Nord nach Süd, von West nach Ost
Brach' es sich Bahn im Nu,
Und gab der ganzen Menschheit Trost,
Glück, Frieden, Heil und Ruh'.
Den Sterbenden, den Kranken
Soll's süße Labung sein.
Bei seinem sanften Flügelschlag
Verstumme Schmerz und Pein.
Bei Waffenklang, bei heißem Streit
Flamm' es empor den Muth,
Und alles unverstandne Leid
Mach' seine Stimme gut.
Doch wo die Sünde lauert
Mit blut'gem Schlangenblick,
Da werd's zum brausenden Orkan,
Treib' sie ins Meer zurück.