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II. Ansätze zur Theoriebildung in der Gotik

Zahlen, die die Längen der zusammenklingenden Saiten wiedergeben. Sie
lassen sich auch darstellen, wie Boethius, De arithmetica II49, lehrt,
durch geometrische Grundfiguren wie gleichseitiges Dreieck, Quadrat und
Kreis, weil in ihnen entsprechende Zahlenverhältnisse walten. Ähnliche
Gesetzmäßigkeiten bestimmten nach Vitruv die Proportionen des mensch-
lichen Körpers (Abb. 1).
Aufbauend auf dem Spruch der Weisheit Salomonis XI 22: „Du hast
alles geordnet nach Maß, Zahl und Gewicht“, vermittelte Augustinus die
Lehre von der Sphärenharmonie dem Mittelalter. Maß, Ordnung und Zahl
bilden für ihn das Wesen der Schönheit. Gott ist der Ursprung der Schön-
heit. So weist alles, was schön ist, auf Gott hin. Besonders Musik und
Architektur geben einen Abglanz von der ewigen Harmonie. Die Architektur
wird für Augustinus zur Wissenschaft durch die Anwendung geometrischer
Gesetze.
O. von Simson und andere haben gezeigt, daß sich diese Vorstellungen
im Hohen Mittelalter auf die Architektur auswirkten. Abt Suger berichtet,
daß er große Sorgfalt darauf verwandte, „durch Anwendung geometri-
scher und arithmetischer Regeln“ die neuerbauten Teile von St.-Denis der
alten Kirche anzugleichen. Der Pilgerführer von Santiago de Compostela
widmet den Maßen der Kirche ein ganzes Kapitel und weist auf die aus-
gewogenen Abmessungen hin (Simson, 188).
Vielleicht das eindrucksvollste Zeugnis für den allumfassenden Zusam-
menhang zwischen Architektur und Menschenmaß mit der kosmischen
Harmonie oder allgemeiner mit der Ordnung der Schöpfung bilden die pla-
stischen Darstellungen der vitruvianischen Proportionsfigur mit Symbolen
der Tugenden, die seit dem frühen 13. Jahrhundert die Gewölbe mehrerer
Lettner in Deutschland, beginnend in Mainz, umspannen (v. Einem). In
ähnlicher Form bringt um die gleiche Zeit ein Reimser Manuskript die Ein-
heit von Kosmos, musikalischer Harmonie, menschlichem Körper und
geometrischen Grundformen zum Ausdruck (Abb. 2).
Die ausgewogenen Maßverhältnisse, überhaupt die gesamte wohldurch-
dachte Struktur des hochmittelalterlichen Kirchenbaus weisen hin auf
Gott als den „elegans architectus“ des Kosmos. Konkreter freilich ist die
Beziehung meist nicht faßbar. Simson führt keine Bauaufnahme und keine
konkrete Quelle an, die die Umsetzung der musikalischen Harmonien in
der gotischen Architektur belegen.
Allerdings ist durch die gründlichen Forschungen von H. Roggenkamp
und K. J. Conant belegt, daß die Grundrisse von zwei richtungweisenden
Bauten der Vorromanik und Romanik nach den mathematischen Regeln
ausgerichtet wurden, die im Denken Platons oder Boethius’ eine beson-
dere Rolle spielten: Die Maßzahlen von St. Michael in Hildesheim (gegr.
vor 1010) sind vom Tetraeder abgeleitet (Abb. 3). Sie stehen in einem über-
 
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