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sie Barfüsser nennen können — daher erhalten, weil bei öffentlichen Processionen einer der Brüder
das Krucifix barfuss zu tragen pflegte. Diese hatten sich in dem ihnen gehörenden Gebäude (jetzt zur
Akademie der Künste gehörig), einen Hof einrichten lassen, in welchen nach und nach sechszehn Bilder
von Andrea del Sarto ausgeführt wurden, von denen zwölf auf die Geschichte Johannes des Täufers
sich bezogen und vier die Tugenden: Glaube, Hoffnung, Liebe und Gerechtigkeit darstellten. Die
Liebe ist als Mutter mit mehreren Kindern gebildet, eine Gruppe, die man als Caritä zu bezeichnen
pflegt. Wir sehen eine schöne, anmuthig bewegte, weibliche Gestalt, die auf dem einen Arm einen
nackten Knaben hält; mit dem andern umfasst sie einen zweiten, ihr zur Seite stehenden Knaben,
während ein dritter auf der andern Seite mit dem Gewände der Mutter spielt. Alles an dieser Gruppe
ist voll Leben, Heiterkeit und Glück, die Gruppirung ungemein harmonisch, die Formen dabei schön
und von ausgezeichneter Modellirung. Es gehört dies Bild zu den späteren in jenem Hofe gemalten
Fresken (1520) und fällt in die Zeit der grössten Vollendung unseres Meisters. — Nach einem alten
auf der kön. Akademie der Künste zu Berlin befindlichen Stich. — Vergleiche auch Pitture a fresco di Andrea del
Sarto. Firenze 1823. Chiostro dello Scalzo, Tafel XIV., gestochen von Zignani.
Fig. 9. Die heilige Agnes. — Die Heilige sitzt in ungemein leichter und graziöser Hal-
tung und blickt entzückt gen Himmel. In der Rechten hält sie die Palme, während die Linke auf
einem Lamme ruht, das den Kopf auf ihren Schooss legt. Durch ein Fenster sieht man in eine
schöne Landschaft mit Stadt und Meer hinaus. Das Bild, welches sich in dem Dome von Pisa be-
findet, ist im Jahre 1527 gemalt. Ein aus derselben Zeit herrührendes Bild, die berühmte im Jahre
1525 gemalte Madonna del Sacco s. Tafel 79, A. Fig. 1. — Auf Holz, 4' 3" hoch, 3' 1" breit. —
Nach dem Stich von L. Cunego.
TAFEL XIV. (77.)
MALEREI DES MICHEL ANGELO.
Fig. 1. Porträt des Michel Angelo Buonarotti nach dem Stich von Giorgio
Ghisi.
Fig. 2 — 7. Aus den Deckengemälden der Sixtinischen Kapelle. — Kurze Zeit,
nachdem Michel Angelo, dessen bedeutendste Werke in der Bildhauerei wir schon auf Taf. 72 kennen
gelernt haben und dessen architektonisches Hauptwerk auf Taf. 87 Platz finden wird, in dem schon
oben erwähnten Wettstreit mit Lionardo da Vinci (vgl. Taf. 74, Fig. 3) seinen grossen Karton voll-
endet hatte (vgl. unten Fig. 11 und 12), wurde er von Papst Julius II. zunächst zur Ausführung
von dessen eigenem Grabmal (vgl. Taf. 72, Fig. 9) nach Rom berufen. Da dies Werk bald unter-
brochen wurde, wendete sich Michel Angelo zur Ausführung der Deckengemälde der Sixtinischen
Kapelle, die ihm der Papst, trotz seines Widerstrebens, übertragen hatte. Er begann damit im Jahre
1508 und soll das ungeheure Unternehmen in der unglaublich kurzen Zeit von 22 Monaten vollendet
haben. Wahrscheinlich ist aber damit blos die Malerei selbst gemeint und man hat anzunehmen,
dass die Anfertigung der zahlreichen Kartons dabei nicht mitgerechnet sei, mit Einschluss welcher
mindestens eine Zeit von 3—4 Jahren anzunehmen ist. Auch dieser Zeitraum aber ist bei der grossen
Ausdehnung des Werkes und bei dem Umstande, dass Michel Angelo dasselbe ganz allein ausführte,
noch als äusserst geringe zu betrachten. Im Anfang allerdings hatte er sich Freunde und Schüler
nachkommen lassen; er schickte dieselben indess sehr bald zurück, liess das schon Begonnene von
der Mauer abschlagen und machte sich selbst an die Arbeit, die er nun mit der ihm eigenen Energie
in der angegebenen kurzen Frist durchführte. Die auszumalende Decke der Sixtinischen Kapelle be-
steht aus einem Spiegelgewölbe von 171 röm. Palm Länge und 59 Palm Breite. In dem flachen Spiegel-
felde hat Michel Angelo die Geschichten der Genesis in vier grossen und mehreren kleineren Bildern
gemalt. Ebenso ist der gewölbte Rand nebst den über den Fenstern befindlichen und in jenen ein-
schneidenden Gewölbekappen zu Malereien benutzt. Da befinden sich zunächst in den Pendentifs
oder Zwickeln zwischen den einzelnen Fenstern die grossartigen Figuren der Propheten und Sibyllen;
in den Lünetten über den Fenstern, sowie in den Stichkappen selbst Figuren und Gruppen der Vor-
fahren Christi.
Endlich befinden sich noch in den vier gewölbten Ecken der Decke Momente aus der Ge-
schichte Israels dargestellt. Alle diese Bilder und Figuren nun sind durch ein höchst eigenthümliches
und geistreich erfundenes architektonisches Gerüste zu einem Ganzen verbunden, das wiederum durch
eine grosse Anzahl von einzelnen Gestalten — Trägern — gleichsam ein organisches und beseeltes
Leben erhält. — Von allen den angeführten einzelnen Bilderreihen haben wir in Nachfolgendem be-
zeichnende Proben ausgewählt.
FlG. 2. Der Prophet Jeremias. ■— Eines der Bilder der Pendentifs, eine Gestalt voll
tiefer gewaltiger Empfindung. Der Prophet erscheint ergriffen von einem grossen Gedanken, dessen
Wucht ihn fast niederzudrücken scheint. Das geneigte Haupt ist auf die Rechte gestützt, die in den
lang herabwallenden Bart greift, während die Linke ruhig im Schoosse ruht. Zu beiden Seiten hinter
ihm zwei kleinere Figuren, die zu den oben erwähnten das architektonische Gerüste belebenden Ge-
stalten gehören. — Nach dem Stich von Giorgio Ghisi.
FlG. 3. Die erythräische Sibylle. — Derselben Reihe angehörig sind die Sibyllen, die
für das Heidenthum waren, was die Propheten für das Judenthum, in einem ähnlichen gewaltigen
und grossartigen Ernst aufgefasst, als diese. Die Erythraea, die wir hier darstellen, sitzt auf einem
ähnlichen Vorsprunge, wie der Jeremias, sie ist seitlich gewendet, die Füsse in wenig gefälliger
Weise übereinander geschlagen. Der eine Arm hängt ruhig am Körper herab, während sie mit dem
andern auf ein geöffnetes Buch hinweist. Ihr zur Seite ein nackter Knabe, der mit einer Fackel
eine Lampe von antiker Form anzuzünden im Begriff steht. — Nach dem Stich von Giorgio Ghisi.
sie Barfüsser nennen können — daher erhalten, weil bei öffentlichen Processionen einer der Brüder
das Krucifix barfuss zu tragen pflegte. Diese hatten sich in dem ihnen gehörenden Gebäude (jetzt zur
Akademie der Künste gehörig), einen Hof einrichten lassen, in welchen nach und nach sechszehn Bilder
von Andrea del Sarto ausgeführt wurden, von denen zwölf auf die Geschichte Johannes des Täufers
sich bezogen und vier die Tugenden: Glaube, Hoffnung, Liebe und Gerechtigkeit darstellten. Die
Liebe ist als Mutter mit mehreren Kindern gebildet, eine Gruppe, die man als Caritä zu bezeichnen
pflegt. Wir sehen eine schöne, anmuthig bewegte, weibliche Gestalt, die auf dem einen Arm einen
nackten Knaben hält; mit dem andern umfasst sie einen zweiten, ihr zur Seite stehenden Knaben,
während ein dritter auf der andern Seite mit dem Gewände der Mutter spielt. Alles an dieser Gruppe
ist voll Leben, Heiterkeit und Glück, die Gruppirung ungemein harmonisch, die Formen dabei schön
und von ausgezeichneter Modellirung. Es gehört dies Bild zu den späteren in jenem Hofe gemalten
Fresken (1520) und fällt in die Zeit der grössten Vollendung unseres Meisters. — Nach einem alten
auf der kön. Akademie der Künste zu Berlin befindlichen Stich. — Vergleiche auch Pitture a fresco di Andrea del
Sarto. Firenze 1823. Chiostro dello Scalzo, Tafel XIV., gestochen von Zignani.
Fig. 9. Die heilige Agnes. — Die Heilige sitzt in ungemein leichter und graziöser Hal-
tung und blickt entzückt gen Himmel. In der Rechten hält sie die Palme, während die Linke auf
einem Lamme ruht, das den Kopf auf ihren Schooss legt. Durch ein Fenster sieht man in eine
schöne Landschaft mit Stadt und Meer hinaus. Das Bild, welches sich in dem Dome von Pisa be-
findet, ist im Jahre 1527 gemalt. Ein aus derselben Zeit herrührendes Bild, die berühmte im Jahre
1525 gemalte Madonna del Sacco s. Tafel 79, A. Fig. 1. — Auf Holz, 4' 3" hoch, 3' 1" breit. —
Nach dem Stich von L. Cunego.
TAFEL XIV. (77.)
MALEREI DES MICHEL ANGELO.
Fig. 1. Porträt des Michel Angelo Buonarotti nach dem Stich von Giorgio
Ghisi.
Fig. 2 — 7. Aus den Deckengemälden der Sixtinischen Kapelle. — Kurze Zeit,
nachdem Michel Angelo, dessen bedeutendste Werke in der Bildhauerei wir schon auf Taf. 72 kennen
gelernt haben und dessen architektonisches Hauptwerk auf Taf. 87 Platz finden wird, in dem schon
oben erwähnten Wettstreit mit Lionardo da Vinci (vgl. Taf. 74, Fig. 3) seinen grossen Karton voll-
endet hatte (vgl. unten Fig. 11 und 12), wurde er von Papst Julius II. zunächst zur Ausführung
von dessen eigenem Grabmal (vgl. Taf. 72, Fig. 9) nach Rom berufen. Da dies Werk bald unter-
brochen wurde, wendete sich Michel Angelo zur Ausführung der Deckengemälde der Sixtinischen
Kapelle, die ihm der Papst, trotz seines Widerstrebens, übertragen hatte. Er begann damit im Jahre
1508 und soll das ungeheure Unternehmen in der unglaublich kurzen Zeit von 22 Monaten vollendet
haben. Wahrscheinlich ist aber damit blos die Malerei selbst gemeint und man hat anzunehmen,
dass die Anfertigung der zahlreichen Kartons dabei nicht mitgerechnet sei, mit Einschluss welcher
mindestens eine Zeit von 3—4 Jahren anzunehmen ist. Auch dieser Zeitraum aber ist bei der grossen
Ausdehnung des Werkes und bei dem Umstande, dass Michel Angelo dasselbe ganz allein ausführte,
noch als äusserst geringe zu betrachten. Im Anfang allerdings hatte er sich Freunde und Schüler
nachkommen lassen; er schickte dieselben indess sehr bald zurück, liess das schon Begonnene von
der Mauer abschlagen und machte sich selbst an die Arbeit, die er nun mit der ihm eigenen Energie
in der angegebenen kurzen Frist durchführte. Die auszumalende Decke der Sixtinischen Kapelle be-
steht aus einem Spiegelgewölbe von 171 röm. Palm Länge und 59 Palm Breite. In dem flachen Spiegel-
felde hat Michel Angelo die Geschichten der Genesis in vier grossen und mehreren kleineren Bildern
gemalt. Ebenso ist der gewölbte Rand nebst den über den Fenstern befindlichen und in jenen ein-
schneidenden Gewölbekappen zu Malereien benutzt. Da befinden sich zunächst in den Pendentifs
oder Zwickeln zwischen den einzelnen Fenstern die grossartigen Figuren der Propheten und Sibyllen;
in den Lünetten über den Fenstern, sowie in den Stichkappen selbst Figuren und Gruppen der Vor-
fahren Christi.
Endlich befinden sich noch in den vier gewölbten Ecken der Decke Momente aus der Ge-
schichte Israels dargestellt. Alle diese Bilder und Figuren nun sind durch ein höchst eigenthümliches
und geistreich erfundenes architektonisches Gerüste zu einem Ganzen verbunden, das wiederum durch
eine grosse Anzahl von einzelnen Gestalten — Trägern — gleichsam ein organisches und beseeltes
Leben erhält. — Von allen den angeführten einzelnen Bilderreihen haben wir in Nachfolgendem be-
zeichnende Proben ausgewählt.
FlG. 2. Der Prophet Jeremias. ■— Eines der Bilder der Pendentifs, eine Gestalt voll
tiefer gewaltiger Empfindung. Der Prophet erscheint ergriffen von einem grossen Gedanken, dessen
Wucht ihn fast niederzudrücken scheint. Das geneigte Haupt ist auf die Rechte gestützt, die in den
lang herabwallenden Bart greift, während die Linke ruhig im Schoosse ruht. Zu beiden Seiten hinter
ihm zwei kleinere Figuren, die zu den oben erwähnten das architektonische Gerüste belebenden Ge-
stalten gehören. — Nach dem Stich von Giorgio Ghisi.
FlG. 3. Die erythräische Sibylle. — Derselben Reihe angehörig sind die Sibyllen, die
für das Heidenthum waren, was die Propheten für das Judenthum, in einem ähnlichen gewaltigen
und grossartigen Ernst aufgefasst, als diese. Die Erythraea, die wir hier darstellen, sitzt auf einem
ähnlichen Vorsprunge, wie der Jeremias, sie ist seitlich gewendet, die Füsse in wenig gefälliger
Weise übereinander geschlagen. Der eine Arm hängt ruhig am Körper herab, während sie mit dem
andern auf ein geöffnetes Buch hinweist. Ihr zur Seite ein nackter Knabe, der mit einer Fackel
eine Lampe von antiker Form anzuzünden im Begriff steht. — Nach dem Stich von Giorgio Ghisi.